Die geheime Stunde
Ordnung mit Ihnen?«
»Haben Sie jemanden wegfahren sehen?« Wachsam hielt er nach rechts und links Ausschau, aber die Küstenstraße war menschenleer. Ihr Wagen parkte am Straßenrand – ein dunkelblauer Sedan.
»Nein.« Ihre tiefgründigen, obsidianfarbenen Augen musterten ihn mit sichtlicher Besorgnis. »Leider. Wollen Sie sich nicht lieber hinsetzen?«
John antwortete nicht. Er lehnte sich gegen den Türrahmen. Fremde klingelten selten. Meistens riefen sie nachts an, wenn seine Familie schlief. Manchmal schrieben sie lange, aufgewühlte Briefe, gewissenhaft begründet, aber voller Hass. Es kam nur selten vor, dass sie persönlich in Erscheinung traten, lächelten und sich besorgt gaben.
»Was führt Sie zu mir? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
Sie lachte, ein perlendes Lachen, so sanft und zart, dass er spürte, wie seine Knie weich wurden. Doch sein Blick wurde hart. Nach Theresa widerstrebten ihm solche Empfindungen, und er weigerte sich, sich von ihnen überrumpeln zu lassen.
»Ich denke, Sie sind es, der Hilfe braucht …« Lächelnd ergriff sie seinen Ellenbogen. Ihre Stimme war melodisch, mit einem leichten Südstaatenakzent, der an Virginia oder die beiden Carolinas erinnerte.
»Oh«, sagte er, als sie ihn mit sanfter Gewalt nötigte, sich auf die Treppenstufe zu setzen. Sie war eine professionelle Helferin – es stand ihr ins Gesicht geschrieben, war aus ihrem Tonfall, dem schlichten Mantel und den vernünftigen schwarzen Lederschuhen ersichtlich. Sie musste die Neue sein, von der Agentur geschickt, um nach der Fahnenflucht des letzten Kindermädchens X das Regiment zu übernehmen. »Sind Sie wegen der Stellung hier?«
»Lassen Sie sich helfen«, sagte sie leise, als seine Knie nachgaben, Sterne vor seinen Augen flimmerten und eine Sirene durch die Straße gellte, die immer näher kam – kluge Kinder; eins von beiden hatte die Polizei verständigt –, und John O’Rourke ließ sich schwerfällig auf den Steinstufen nieder und deutete ihre Antwort als »Ja«.
Thaddeus George O’Rourke hatte die Polizei benachrichtigt, aber er ignorierte ihre Ankunft. Maggie war völlig aufgelöst. Er musste die restlichen Vorbereitungen treffen, damit sie zur Schule gehen konnte, und anschließend seine eigenen Sachen packen, um den Bus noch zu erreichen – andernfalls wäre sein Vater gezwungen, ihn hinzufahren, und die Mittelschule lag nicht auf seinem Weg.
»Maggie, zieh dich lieber um«, sagte er, als er merkte, dass das Blut nicht herausging.
»Kommt nicht in Frage. Du hast gesagt, dass ich dein Trikot tragen darf.«
»Ich weiß, aber mit diesen Blutflecken siehst du aus wie Beweismittel Nummer 24 auf zwei Beinen. Wir waschen es, und dann kannst du es morgen anziehen.«
»Das bedeutet nächste Woche – hier kümmert sich doch niemand um die Wäsche«, protestierte Maggie, aber als sie sah, wie Teddy die Stirn runzelte, zupfte sie ihn am Ärmel. »Tut mir Leid«, fügte sie rasch hinzu. »Es ist nicht deine Schuld. Oder Dads. Ich könnte lernen, wie man …«
»Du bist erst elf«, entgegnete Teddy frustriert und rubbelte erneut, um die Flecken zu entfernen. »In deinem Alter sollte man spielen und nicht Wäsche waschen.«
»Jeder muss einspringen, wenn Not am Mann ist.« Sie warf einen besorgten Blick in Richtung Diele, wo tiefe Stimmen begannen, ihren Vater mit Fragen zu bombardieren. »Glaubst du, dass sie dieses Mal etwas tun werden?«
»Klar.«
»Aber sie werden den Täter nicht finden, oder?«
»Vielleicht doch.«
Brainer war hinausgelaufen, um die Streifenpolizisten zu begrüßen, und kam nun mit großen Sprüngen zu Teddy und seiner Schwester zurück. Der hoch gewachsene Golden Retriever gehörte seit Teddys neuntem Lebensjahr zur Familie. Er war der beste, klügste und coolste Hund der Welt, und Teddy hatte seinen Namen selbst ausgesucht. Sein Fell war früher seidenweich, aber das war lange her; nun sah es struppig und verfilzt aus, voller Kletten, Zweige und Seetang. Er versetzte Maggie einen Nasenstüber, dann lehnte er sich gegen Teddy, um ein paar beschwichtigende Streicheleinheiten einzufordern.
»Alles in Ordnung, Brainer.« Teddy ging in die Hocke. »Braver Hund.«
Der Hund leckte Teddy das Gesicht. Teddy schloss die Augen, kraulte das weiche Fell. Brainer hatte immer Bestätigung gebraucht. Er war Fremden gegenüber superfreundlich, aber er lief stets zu seiner Familie zurück, um sich zu vergewissern, dass er brav und mutig war. Genau wie ich, dachte Teddy.
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