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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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ansah, weiteten sich ihre Augen vor Entsetzen, und ihr Aufschrei gellte in seinem Ohr.
    »Dad, du hast eine Platzwunde!« Als er seine Schläfe berührte, spürte er eine warme Flüssigkeit an einer Stelle; er nahm eine grün-blaue Serviette und presste sie gegen die klaffende Wunde. Teddy lief herbei, stieß Maggie beiseite und betrachtete prüfend den Kopf seines Vaters. John stand auf und ging, seine Kinder an den Händen haltend, ins Badezimmer.
    »Halb so schlimm«, erklärte er, als er sich im Spiegel musterte. »Nur ein kleiner Kratzer – sieht schlimmer aus, als es ist.«
    »O Mommy«, entfuhr es Maggie unwillkürlich.
    John nahm seine Tochter in die Arme. Sein Herz war schwer, er litt unendlich mit ihr. Sie vermisste ihre Mutter fortwährend, und traumatische Erfahrungen wie diese waren dazu angetan, die Erinnerung an den Unfall wieder heraufzubeschwören. Das hatte er sich selbst zuzuschreiben. In dem Bemühen, seine eigenen Wunden zu lecken, hatte er den arbeitsreichsten und größten Fall seiner gesamten beruflichen Laufbahn übernommen – nicht einmal zwei Jahre, nachdem seine Kinder ihre Mutter verloren hatten. Er war ein selbstsüchtiger Idiot, und seine Kinder mussten es ausbaden.
    Als plagten Teddy die gleichen Schuldgefühle, schob er John beiseite und ergriff die Hand seiner Schwester. Zwei Blutstropfen hatten Flecken auf ihrem Fußballtrikot hinterlassen, und er nahm einen Waschlappen und versuchte, sie herauszureiben.
    »Ich weiß, dass an dir ein Junge verloren gegangen ist, Mags«, sagte er. »Aber die Leute werden denken, dass du auf dem Spielfeld Prügel bezogen hast, wenn wir dich so zur Schule gehen lassen.«
    »Mich verprügelt niemand«, schniefte sie.
    »Stimmt.« Teddy rubbelte an ihrem Trikot. »Wenn jemand prügelt, dann bist du es, richtig?«
    »Richtig.« Tränen strömen nun aus ihren klaren blauen Augen.
    Gott steh mir bei, dachte John und trat einen Schritt zurück. Er berührte die Platzwunde an seiner Schläfe. Vielleicht war sie tiefer, als er zunächst gedacht hatte. Sie blutete jetzt stärker; er gelobte sich insgeheim, gegen das Bedürfnis anzukämpfen, sie in der Notaufnahme nähen zu lassen. Er hatte einige Besprechungen in der Kanzlei, mehrere Fälle, die er durchgehen und einen Schriftsatz, den er fertig machen musste.
    Es läutete an der Tür.
    Hatte eines der Kinder die 911 gewählt? Er eilte zur Tür, doch in der Diele hielt er inne. Was war, wenn die Person, die den Ziegelstein geworfen hatte, zu den Küstenbewohnern gehörte, die erzürnt waren, weil er den emotional befrachteten Fall Greg Merrill vor den Obersten Gerichtshof von Connecticut bringen wollte?
    Im Laufe der Jahre hatte John O’Rourke etliche Drohungen erhalten. Seine Tätigkeit brachte viele Leute in Harnisch. Er verteidigte Bürger, denen man die schlimmsten Verbrechen zur Last legte, die ein Mensch nur begehen konnte. Ihre Opfer hatten Verwandte und Freunde, ein Leben, das ihnen lieb und teuer gewesen war, wunderbare Träume. Die Leute sahen John als einen Menschen, der sich zum Fürsprecher von Ungeheuern machte. Er verstand und akzeptierte den Zorn der Öffentlichkeit.
    Er wusste, dass irgendjemand ihm eines Tages auflauern könnte, der mehr im Sinne hatte als ein Gespräch, aber er besaß keine Waffe. Aus Prinzip, aber auch in Folge eines gesunden Respekts: Als Strafverteidiger sah er jeden Tag den Schaden, den Waffen anrichten konnten. Im Augenblick hoffte er, als er an Maggies Todesangst dachte, dass er sich mit dieser Einstellung nicht auf dem Holzweg befand. Noch immer zitternd nach dem Angriff, der vor wenigen Minuten in seiner Küche stattgefunden hatte, legte er seine Hand auf die Klinke, holte tief Luft und riss die Tür mit einem Ruck auf.
    Eine Frau stand auf der obersten Treppenstufe. Sie trug einen schiefergrauen Mantel, geeignet für den kalten Herbsttag, hatte schulterlanges braunes Haar und Augen in der Farbe von Flusssteinen. Sommersprossen sprenkelten ihre Nase. Ihr Lächeln war sanft, aber irgendwie starr – als hätte sie, während sie darauf wartete, dass jemand die Tür öffnete, beschlossen, einen freundlichen und aufgeschlossenen Eindruck zu machen. Doch als sie sein Gesicht sah – seine verzerrte Miene, wie er sich vorstellen konnte, und das Blut, das an seiner Schläfe hinablief –, klappte ihre Kinnlade herunter.
    »Oh.« Sie wich zurück, dann trat sie wieder einen Schritt vor. Sie streckte die Hand aus, als wollte sie seine Wange berühren. »Alles in

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