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Die geheime Stunde

Die geheime Stunde

Titel: Die geheime Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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in der Revision zu mehrfach lebenslänglich verurteilt würde, ohne die Möglichkeit, jemals wieder auf freien Fuß gesetzt zu werden. Teddy beobachtete seinen Vater, die grünen Augen verdunkelt von Ernst und Kummer. Maggie blinzelte, ihre blauen Augen – von der gleichen Farbe wie Theresas – wurden von einem zerfransten Pony eingerahmt, den John am Vorabend gekürzt hatte. Das verschnittene Haar seiner Tochter war beschämend und der trübe Blick seines Sohnes eine Ermahnung, die nicht schlimmer, aufrichtiger und verdienter sein könnte. Seit dem plötzlichen Tod seiner Mutter war Teddy der selbst ernannte Beschützer aller Frauen dieser Welt.
    »Das ist doch schließlich dein Beruf, Dad, oder?«, fragte Maggie mit zusammengekniffenen Augen. »Die Rechte jedes Menschen zu schützen.«
    »Es wird Zeit, ihr müsst zur Schule.«
    »Ich bin fertig«, sagte Maggie, mit einem Mal niedergeschlagen.
    John musterte ihre Kleidung: grüne Leggins, blauer Rock, ein altes Fußballtrikot von Teddy. »Ah«, stöhnte John und verfluchte insgeheim das letzte Kindermädchen, das gekündigt hatte, aber noch mehr sich selbst, weil er ein derart unbequemer Arbeitgeber war. Er hatte die Arbeitsvermittlungsagentur angerufen, und es hieß, man werde einige neue Kandidatinnen zu einem Bewerbungsgespräch vorbeischicken, aber mit seiner Vorgeschichte und seinen Überstunden würde er sie wahrscheinlich überfordern und spätestens bis Halloween vergrault haben. Vielleicht sollte er doch mit der ganzen Familie in das Haus seines Vaters ziehen, damit Maeve sie unter ihre Fittiche nahm.
    »Gefällt dir nicht, was ich anhabe?«, fragte Maggie stirnrunzelnd und blickte an sich herab.
    »Du siehst großartig aus«, versicherte Teddy, der Johns warnenden Blick auffing. »Du wirst das hübscheste Mädchen in der ganzen Klasse sein.«
    »Findest du? Dad dachte, ich sei noch nicht angezogen …«
    »Maggie, du siehst wirklich hübsch aus.« John schob die Papiere beiseite und zog sie auf seinen Schoß.
    Sie schmiegte sich in seine Arme, immer noch bereit, jede Gelegenheit zum Kuscheln wahrzunehmen. John schloss die Augen, fühlte sich selber trostbedürftig. Sie roch nach Milch und Schweiß, und es versetzte ihm einen Stich, als ihm bewusst wurde, dass er vergessen hatte, sie nach dem Haareschneiden daran zu erinnern, ein Bad zu nehmen.
    »Ich bin nicht hübsch«, flüsterte sie an seinem Hals. »Mommy war hübsch. Ich bin ein Wildfang; an mir ist ein Junge verloren gegangen. Jungen können nicht hübsch sein. Sie sind …«
    Der Friede wurde durch das Splittern von Glas unterbrochen. Irgendetwas flog durch das Küchenfenster, schlidderte über den Tisch, kippte Milch, Schalen und Müsli um und krachte an die gegenüberliegende Wand. John warf sich über Maggie, schützte sie mit seinem Körper, während viereckige, dreieckige und winzige Glassplitter auf sie herabregneten. Seine Tochter schrie vor Angst auf, und er hörte, wie er Teddy zubrüllte, sich unter dem Tisch in Deckung zu bringen.
    Als der Scherbenhagel endete, kam der erste Laut von Brainer, der bellend zwischen dem zerbrochenen Fenster und der Haustür hin und her rannte. Eine große Welle brandete draußen gegen die Felsen; das Geräusch, nicht mehr von der Fensterscheibe gedämpft, war erschreckend laut. Maggie begann zu schluchzen – wimmernd zunächst, dann mit wachsender Erregung. Teddy kroch unter dem Tisch hervor, stieß mit dem Fuß Glasscherben beiseite und hastete durch den Raum.
    »Das war ein Ziegelstein, Dad«, rief er.
    »Nicht anfassen!« John hatte Maggie noch auf dem Schoß.
    »Ich weiß. Wegen der Fingerabdrücke.«
    John nickte, obwohl er wusste, dass keine zu finden sein würden. Die Leute waren heutzutage bestens über den Umgang mit Beweismitteln informiert, auch wenn sie noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Selbst die größten Hitzköpfe in der Umgebung – deren schlimmstes bisheriges Vergehen darin bestanden haben mochte, sich im Eifer des Gefechts mit einer Leserzuschrift an den Herausgeber des Lokalblatts im Ton zu vergreifen oder an Protestkundgebungen vor dem Gerichtsgebäude teilzunehmen – hatten aus den Polizeisendungen im Fernsehen und den Kriminalromanen mit juristischem Hintergrund ausreichend Kenntnisse über Fingerabdrücke, Haare und Fasern am Tatort gesammelt.
    Blut tropfte auf den Fußboden. John nahm seine Tochter genauer in Augenschein, um sich zu vergewissern, dass sie keine Verletzung davongetragen hatte. Als sie ihn

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