Die geheimen Jahre
alles beim alten: immer noch die gleichen Berge von Manuskripten, Druckfahnen und Büchern, die sich in Büro und Korridor stapelten. Harold stieà einen Freudenschrei aus, schüttelte Daniel die Hand und staubte mit seinem Taschentuch einen Stuhl für ihn ab.
»Wie schön, der verlorene Sohn ist heimgekehrt. Wir dachten schon, Sie seien unter die Räuber gefallen. Ich wollte mich gerade daranmachen, Ihren Nachruf zu verfassen.«
Daniel sah ungepflegt aus, seine Augen wirkten eingefallen. Er grinste. »Wie gehtâs Ihnen, Harold?«
»Hervorragend, alter Junge, hervorragend. Obwohl die Geschäfte wie immer mies laufen.« Harold griff in eine Schublade und holte eine Flasche und zwei Gläser heraus. »Ich hoffe, Sie haben was für mich, was die angegriffene Vermögenslage von Markham Books wiederherstellt. Etwas Exotisches ⦠Leidenschaftliches ⦠Russisches â¦Â«
Daniel schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Harold. Nichts Exotisches, Leidenschaftliches und Russisches.«
Harold schenkte zwei Whiskys ein und sah Daniel fragend an. »Schreibhemmung? Machen Sie sich keine Sorgen, lieber Junge ⦠das passiert den Besten.«
»Oh, ich hab was geschrieben, Harold.« Er öffnete seinen Armeesack und nahm ein groÃes Kuvert heraus. »Es ist nur nicht das, was ich eigentlich schreiben wollte.«
Er legte das handgeschriebene, mit einer Schnur zusammengebundene Manuskript vor Harold auf den Schreibtisch. Harolds Augen glänzten.
»Ah. Es ist fast so, als ginge man mit einer Frau zum erstenmal ins Bett. Die gleiche Erwartung. Die Möglichkeit, daà sie vielleicht die Richtige sein könnte â¦Â« Harold suchte in dem Durcheinander aus Heftklammern, Stiften und Siegellack herum und zog ein Papiermesser heraus. »Darf ich?«
»Nur zu.« Daniel nahm einen Schluck Whisky, als Harold die Schnur um das Manuskript aufschnitt. Während er trank, dachte er an die vergangenen Wochen: an das Hochgefühl beim Abschluà des Buchs, das Gefühl der Entspannung, den überwältigenden Drang, nach Hause zurückzukehren, die Erleichterung, endlich zu wissen, wo sein Zuhause war. Und dann hatte das schlechte Wetter die Abreise aus RuÃland fast verhindert, danach die komplizierte Fahrt mit verschiedenen Zügen, Bussen, Schiffen und Ponyfuhrwerken.
»Ãber den Krieg«, sagte Harold plötzlich, vom Manuskript aufsehend. »Sie haben über den Krieg geschrieben.«
Daniel strich sich mit der Hand durch das zerzauste Haar. »Wie gesagt, es ist nicht das, worüber ich eigentlich schreiben wollte. Aber ich hatte wieder Träume â schreckliche Träume. Lebendig begraben zu sein und andere furchtbare Dinge. Und was ich schreiben wollte, lieà sich einfach nicht zu Papier bringen. Jeder Satz war eine Anstrengung. Ich war vollkommen verzweifelt, also dachte ich, ich schreibe über die Dinge, die mir passiert sind â in Form eines Tagebuchs, aber in der Retrospektive. Irgendwas, um die Sätze wieder in Fluà zu bringen. Und dann stellte ich fest, daà ich über den Krieg schrieb. Und nachdem ich einmal angefangen hatte, muÃte ich weitermachen â es endlich loswerden. Ich hatte Angst, daà ich mich noch schlechter fühlen könnte, aber das war nicht der Fall. Die Träume gingen weg und sind nicht wiedergekommen.«
»âºIn Worte gefaÃtes Leidâ¹Â«, murmelte Harold und blätterte noch immer in dem Manuskript.
»âºDer nur bezähmt es, der es in Verse kleidet.â¹ Ich weiÃ. Es hat drei Monate gedauert, um es in Verse zu kleiden, Harold. Vierhundert Seiten Manuskript in drei Monaten.«
Während dieser drei Monate hatte Daniel jeden Tag im Morgengrauen zu schreiben angefangen und oft das Essen darüber vergessen. In Decken und Pelze gehüllt, bei Kerzenlicht, hatte er auf die verschneiten StraÃen Moskaus hinausgestarrt und nur die endlosen Schlammfelder an der Somme gesehen.
»Sie sind nicht der einzige«, sagte Harold. »Es sind mehrere Bücher mit Kriegserinnerungen in Vorbereitung. Sowohl Siegfried Sassoon als auch Edmund Blunden wollen etwas zu diesem Thema herausbringen.«
»Wir sind langsam erwachsen geworden«, sagte Daniel. »Allmählich sind wir in der Lage, uns der Vergangenheit zu stellen.«
»Und die Zukunft sieht rosiger aus, finden Sie nicht auch? Pazifismus ist inzwischen fast ehrenhaft.«
Anfang
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