Die geheimen Jahre
war fast fertig.
Dann hörte sie ein Geräusch vom Treppenabsatz, das nicht zu miÃdeuten war. Sie warf das Küchentuch beiseite und rannte nach oben.
»Mir ist schlecht geworden, Mami«, sagte William weinerlich. »Ich habâs nicht mehr zur Toilette geschafft.« Er begann zu schluchzen.
Als sie ihm die beschmutzten Kleider auszog, sah sie die roten Punkte auf seiner Brust. Seine Stirn glühte.
»Du hast Masern, du Armer. Wahrscheinlich hast du dich bei Rosie Dockerill angesteckt.«
»Mr. Dockerill hat gesagt, daà Rosie überall Punkte hat.« Im Badezimmer sah William an sich hinunter, was ihn vorübergehend von seinem Leid ablenkte. »Er hat gesagt, sie sieht aus wie ein Johannisbeerpudding.«
Thomasine zog William den Schlafanzug an und versuchte, die aufsteigende Angst in sich niederzukämpfen. William war jetzt fünfeinhalb, gut genährt und gesund, bekam jeden Tag einen Löffel Lebertran, und sobald er nieste, wurde ihm Kampferöl auf die Brust gerieben. Sie durfte nicht an die beiden Babys in Drakesden denken, die während der gerade herrschenden Masernepidemie gestorben waren. Sie waren schlecht genährt und unzureichend gekleidet gewesen, und in ihren Häusern war es feucht und kalt. Sie durfte nicht an Mittelohrentzündung denken, an Blindheit, Lungenentzündung â¦
Sie packte William ins Bett und zog die Vorhänge halb zu, um das trübe graue Licht abzuhalten. Der nächste Arzt befand sich in Ely, aber bei Masern konnte ein Arzt wenig ausrichten. Thomasine küÃte ihn auf die heiÃe Stirn.
»Ich räum ein biÃchen auf, und dann komme ich und lese dir eine Geschichte vor, Liebling.«
Thomasine legte ihre Ausgehkleidung ab und zog eine Hose und einen dicken Pullover an. Dann wischte sie den Treppenabsatz auf und warf die schmutzigen Kleider in den Wäschetrog. Der Bankdirektor müÃte warten.
Isoliert in ihrem kleinen Haus, das einen Kilometer vom Dorf entfernt stand, sah Thomasine niemanden auÃer Eddie Readman. In ihrer Einsamkeit stellte sie eines Tages fest, daà sie mit dem Schwein zu reden begann. Ich werde schon schrullig, dachte sie. Ich werde streunende Katzen aufnehmen und auf der StraÃe Selbstgespräche führen.
Sie wusch Williams heiÃen kleinen Körper und gab ihm löffelweise dünnen Tee. Er übergab sich häufig, war unruhig und fühlte sich fast die ganze Nacht hindurch schlecht. Sie betupfte die roten Flecken mit Zinkspatlösung und erzählte ihm Geschichten, um ihn vom Kratzen abzulenken. Einmal wälzte er sich auf dem Boden und schrie vor Zorn über den beständigen Juckreiz. Sie trug ihn ins Badezimmer und badete ihn in kühlem Wasser, wonach er, in ein Handtuch gewickelt, in ihren Armen vor dem Ofen einschlief. Thomasine saà ganz still da und beobachtete ihn. Das feuchte schwarze Haar, die langen Augenwimpern, die zarte Haut, die mit unzähligen roten Flecken übersät war. Der endlose Regen, der aufs Dach und gegen die Fenster trommelte, schien die passende Begleitmusik für Krankheit und Einsamkeit zu sein.
Eines Morgens wachte William auf und bat zum erstenmal nach fünf Tagen um Essen. Thomasine kochte ein Ei und schnitt Toaststreifen für ihn auf. Auch ihr tat der Kopf weh, und sie fühlte sich erschöpft und ungewaschen. Alles heiÃe Wasser war zum Waschen der Laken, der Taschentücher und Schlafanzüge draufgegangen, und sie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie zum letztenmal gebadet hatte. Jeder einzelne Knochen tat ihr weh. Sie schloà kurz die Augen und erinnerte sich an die heiÃen Bäder, die sie einst auf Drakesden Abbey genommen hatte, an das flieÃende Wasser, das parfümierte Badesalz, die dicken, luxuriösen Handtücher â¦
William schlief fast den ganzen Tag, Thomasine wusch und bügelte, scheuerte die Schüsseln, die Böden und Tische. Als sie in der letzten Ecke des Küchenbodens angekommen war, stand sie auf, und der Raum drehte sich um sie. Ihr war unerträglich heiÃ, und ihr Kopf tat weh, als schlüge jemand mit einem Hammer darauf. Als sie nach oben ging und ihre schmutzigen Kleider auszog, war sie nicht sonderlich überrascht, daà auch ihr ganzer Oberkörper rote Flecken hatte. Als Daniel wieder in London eintraf, stellte er schnell seine Sachen in seiner Wohnung ab und machte sich gleich auf den Weg zu Harold Markham.
Bei Markham Books war
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