Die geheimen Jahre
1928 war der Kelloggpakt in Kraft getreten: Ein Staat nach dem anderen unterzeichnete das Abkommen zur moralischen Ãchtung des Angriffskrieges. Daniel äuÃerte seine Bedenken nicht: daà der Pakt nichts darüber aussagte, was gegen die Staaten unternommen werden sollte, die das Abkommen brachen.
Aber er hatte die Wahrheit gesagt, dachte Daniel. In der Abgeschiedenheit des kleinen Zimmers in Moskau hatte er getan, was Thomasine ihm aufgetragen hatte. Er hatte beschrieben, wie es gewesen war: das wahre Gesicht des Krieges, nicht den Mythos. Die Wirklichkeit bestand aus Giftgas, Läusen, Ratten und Verstümmelung, unerträglicher Angst und so groÃen seelischen Verletzungen, daà selbst noch ein Jahrzehnt nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands das Leben davon beeinträchtigt war. In seinem Buch hatte er gezeigt, daà der Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts nichts Ehrenvolles an sich hatte, daà diese Träume vielleicht für immer vergangen waren.
Er hatte seine Geschichte in ganz klaren Worten geschrieben, die vielleicht sein gröÃter Vorteil waren. Er hatte nicht übertrieben, nichts beschönigt. Seine Sprache wirkte emotionslos, nüchtern, fast unbeteiligt. Seine Meinung über den Wahnsinn des Krieges, über die dynastischen Eifersüchteleien, die ihn herbeigeführt, und über die Unfähigkeit der alten Männer, die ihn aus sicherer Distanz zur Front befehligt hatten, sprach er nicht direkt aus. Das brauchte er auch nicht. Er wuÃte, daà seine Erlebnisse für sich selbst sprachen.
Harold berührte seine Schulter. »Sie sehen aus, als hätten Sie monatelang nichts Anständiges mehr zu essen bekommen, alter Junge. Immer nur Borschtsch und geschmorte Leber. Lassen Sie sich in meinen Klub einladen. Da gibtâs gutes Roastbeef und Yorkshire-Pudding mit Marmeladerolle zum Nachtisch. Dort kriegen Sie wieder was auf die Rippen.«
Daniel stand auf. Harold zog seinen Mantel an, setzte einen Bowler auf und legte sich einen roten Schal um den Hals. »Oh â« Er begann, in einem Schrank zu wühlen.
»Briefe, mein Lieber â von Ihren Angehörigen und Liebsten, nehme ich an. Ich hätte sie Ihnen nachgeschickt, aber in der letzten Zeit hatte ich keine Adresse mehr von Ihnen. Sie können ja beim Essen einen Blick darauf werfen.«
Sie aÃen drei Gänge und tranken dazu einen leichten Bordeaux-Wein. Beim Kaffee, während Harold seine unvermeidliche Zigarre rauchte, zog Daniel das Bündel Briefe heraus.
»Es macht Ihnen doch nichts aus �«
»Ganz und gar nicht. Eigentlich wollte ich ohnehin kurz mit Freddy Bright sprechen. Wenn Sie mich entschuldigen.« Harold stand auf und ging in die andere Ecke des Speiseraums.
Daniel hatte schnell entdeckt, daà kein Brief von Thomasine darunter war. Er hatte auch keinen erwartet: daà kein Brief von ihr dabei war, hieà nur, daà Lally noch lebte, daà Thomasine und William noch immer auf Drakesden Abbey wohnten. Was er ihr sagen wollte, muÃte er ihr persönlich sagen.
Bei den Briefen handelte es sich hauptsächlich um Rechnungen, dazu ein Schreiben seines Wohnungsvermieters und Nachrichten von verschiedenen politischen und literarischen Vereinigungen. Ein Brief stammte von Nell, die ihm die Geburt ihres ersten Kinds, seines ersten Neffen, anzeigte, und einer von Harry Dockerill. Harrys Brief war mehrere Seiten lang. Daniel trank seinen Kaffee, während er ihn las.
Als er fertig war, faltete er die Seiten zusammen und steckte sie in die Tasche. Erst jetzt bemerkte er den anhaltenden Regen und den heftigen Wind. Die Ãberfahrt über den Kanal war scheuÃlich gewesen â fünf Stunden, in denen die Wellen wütend gegen das Schiff geschlagen hatten. Besorgt sah Daniel aus dem Fenster. Unter anderem hatte ihm Harry von den Ergebnissen der Königlichen Untersuchungskommission über den Zustand der Fens geschrieben. Die Schlüsse, die die Kommission gezogen hatte, waren beunruhigend gewesen: Aufgrund der Knappheit der Mittel war das südliche Deichland schutzlos der Gefahr einer groÃen Ãberschwemmung ausgeliefert.
»Schlechte Nachrichten?« Harold war an den Tisch zurückgekehrt.
Daniel verzog das Gesicht. »Ich weià nicht â¦Â« Er sah wieder aus dem Fenster. »Harold â wie lange ist das Wetter schon so?«
Harold sah ihn verständnislos an. »Keine Ahnung, mein Lieber. Ich achte nicht
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