Die geheimen Jahre
Dorflebens mit seinen starren Klassenschranken lästig war. Daà sie sich manchmal nach Hügeln, Farben und Musik sehnte.
»Vielleicht gehe ich auch zu meiner Tante Tony«, fuhr sie, einen geheimen Traum aussprechend, fort. »Sie hat eine Tanzschule in London. Letztes Jahr hat sie mich in ein Ballett im Alhambra-Theater mitgenommen, Daniel. Es war herrlich, absolut wunderbar.«
Der Sommer 1914 war seltsam, denn Thomasine schwankte ständig zwischen Hochstimmung und abgrundtiefer Langeweile. Die Unterrichtsstunden bei Hilda, die sie früher genossen hatte, empfand sie manchmal als lähmend, und die Abende, an denen sie nicht ausritt oder sich mit Daniel traf, kamen ihr quälend lang vor. Sie hatte alle Bücher in Quince Cottage und alle interessanten Werke aus der Leihbibliothek in Ely gelesen.
Innerhalb der Dorfgesellschaft war sie isoliert. Die Dorfkinder hatten ihr anfängliches MiÃtrauen gegen sie nie ganz abgelegt, und ihre Altersgenossen waren inzwischen in Stellung oder arbeiteten auf dem Feld. Nur Daniel konnte sie als Freund ansehen, weil auch er sich wegen seines Stipendiums von seinen Kameraden unterschied. Obwohl sie ihre Tanten allmählich liebgewonnen hatte, erschien ihr deren Leben als ledige Frauen besonders eingeschränkt. Einmal stritt sie sich sogar mit Hilda und fragte, warum ihre klügste Tante nicht Lehrerin oder Krankenschwester geworden war, statt sich in Drakesden einzumauern.
»Weil mein Vater fand, daà Frauen nicht arbeiten sollten«, antwortete Hilda ruhig, »und da Rose und ich nicht geheiratet haben, waren wir gezwungen, bei ihm zu leben.« Nur Patricia und Antonia waren entkommen, durch Heirat.
Aber dennoch, wenn sie ritt, durch die Felder wanderte oder sich in ein wirklich gutes Buch vertiefte, war sie vollkommen zufrieden.
Am Pfingstfest, als Thomasine mit den übrigen Dorfbewohnern in einem groÃen Kreis tanzte, als alle sich umeinander herumschlängelten wie Bänder an einem Maibaum, war sie glücklich.
Zu Thomasines fünfzehntem Geburtstag, Ende Juni, buk Tante Rose einen Kuchen mit rosafarbenem ZuckerguÃ, und Tante Hilly schenkte ihr einen Band mit Housmans Gedichten. Nachdem Thomasine mit den Haushaltsabrechnungen fertig war (was während der folgenden zwei Jahre zu ihren festen wöchentlichen Aufgaben zählte), das Gemüsebeet gegossen und ein Stück des rosaglasierten Kuchens gegessen hatte, spazierte sie aus dem Dorf hinaus und dann den Weg entlang zu der Stelle, an der sie mit Daniel verabredet war.
Sie hatte den Pfarrer nicht gebeten, ihr sein Pony zu leihen, weil sie das neue Kleid trug, das sie gemeinsam mit Tante Rose genäht hatte. Das Kleid aus weiÃem Musselin mit blaÃblauer Schärpe war zum Reiten nicht geeignet. Auch ihr Haar war auf andere Weise frisiert, anstatt zu Zöpfen geflochten, wurde es von einem breiten blauen Band im Nacken zusammengehalten. Auf dem Deichweg achtete sie auf ihre Schritte und vermied es, in den schlimmsten Schlamm zu treten.
Als sie das Getrappel von Pferdehufen hörte, blickte sie auf und erwartete Daniel zu sehen, der ein frisch beschlagenes Pferd zu einem Farmer zurückbrachte. Aber es war nicht Daniel, der den Weg entlangsprengte, sondern Nicholas Blythe. Sie trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen, aber er zügelte sein Pferd, und Gras und Schlamm spritzten auf.
»Ach, Miss Thorne. Es tut mir furchtbar leid. Ich hab Sie nicht gesehen. Hab ich Sie erschreckt?«
Thomasine schüttelte den Kopf. »Ãberhaupt nicht.« Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Nicholas Blythe und sein älterer Bruder Gerald hielten sich für gewöhnlich von April bis August nicht in Drakesden auf. »Ich dachte, Sie wären in der Schule, Mr. Blythe.«
»Ich war krank. Windpocken. Und soll in Quarantäne bleiben. Gerry hatte sie vor ein paar Jahren, deshalb ist er noch in Winchester, der arme Teufel. Im Moment ist es nur verdammt langweilig in der Abbey â Mama, Pa und Marjorie sind in London, also sind nur Lally und ich zu Hause.«
»Was für ein hübsches Pferd.« Thomasine streichelte die schwarzen samtigen Nüstern.
»Es heiÃt Titus. Reiten Sie, Miss Thorne?«
Sie nickte und holte ein paar Zuckerstücke aus ihrer Tasche, die sie immer bei sich trug. Das samtige Maul des Pferdes rieb sich an ihrer Handfläche.
»Mr. Fanshawe leiht mir sein Pony.«
»Ach â dieses alte Ding. Das kann
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