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Die geheimen Jahre

Titel: Die geheimen Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Dockerills drängte sich an dem zerkratzten runden Tisch zusammen, die anderen saßen auf Hockern, Kisten und Planken. Mrs. Dockerill hob den Speckpudding aus dem Topf und nahm das Musselintuch ab. Sie schnitt ihn in zwölf Stücke und verteilte sie auf die bunt zusammengewürfelten Teller und Schalen. Jeweils ein großes Stück für Mr. Dockerill, Harry und Tom, die auf dem Feld arbeiteten, mittelgroße Stücke für Jane und Sally, die als Dienstboten beschäftigt waren, aber den Nachmittag freihatten, und kleine Stücke für die Kinder. Das Neugeborene schlief in einer Kiste in der Ecke. Der Speckpudding duftete unwiderstehlich.
    Alle hatten zu essen begonnen, als von draußen das Geräusch von Schritten hereindrang. Harry Dockerill öffnete die Tür, und Lady Blythe stand davor, ihr Sohn Nicholas und ihre Tochter Marjorie hinter ihr. Lady Blythe brachte ein paar alte Laken für Mrs. Dockerill, die für das Neugeborene zerschnitten werden konnten. Thomasine beobachtete, wie Lady Blythe ins Cottage trat, nacheinander die Deckel von den Töpfen auf dem Herd hob und deren Inhalt inspizierte. Die lauten, fröhlichen Dockerills wurden plötzlich still. Sie hatten ihr Besteck abgelegt und saßen stocksteif und unbehaglich da, während das Essen auf ihren Tellern kalt wurde. Thomasine, die Ärger in sich aufkommen spürte, ohne genau zu wissen warum, spießte trotzig ein Stück Speck mit ihrer Gabel auf.
    Â»Weißkohl, Mrs. Dockerill?« fragte Lady Blythe, in den größten Topf spähend. »Grünkohl ist genauso nahrhaft und wesentlich billiger.«
    Dann entdeckte sie Thomasine. Der Blick aus den eisblauen Augen traf sich mit dem aus Thomasines meergrünen, genauso wie vor der Kirche, genauso wie damals, als sie unerlaubterweise den Rasen von Drakesden Abbey betreten hatte.
    Â»Leg deine Gabel weg, Kind. Hast du denn keine Manieren? Weißt du nicht, wie du dich vor Höherstehenden zu benehmen hast?«
    Unbändiger Zorn stieg in ihr auf. Die Erinnerung, wie ihre Mutter für die Missionarin Tee einschenkte, kam wieder in ihr hoch.
    Â»Vor Gott sind wir alle gleich, Lady Blythe«, antwortete Thomasine entschieden. Ihr Gesicht war heiß, aber als sie wegsah, traf sich ihr Blick kurz mit dem von Lady Blythes dunkelhaarigem Sohn, und sie glaubte, weniger Kritik als Belustigung darin zu erkennen.
    Diesmal lachte Daniel Gillory nicht, als ihm Thomasine erzählte, was passiert war. Er stand am Rand des Deichs und ließ flache Steine über das klare kalte Wasser hüpfen.
    Â»Den Blythes gehören die meisten der Cottages in Drakesden«, erklärte er. »Und auch das meiste Land. Und die meisten der Farmen. Also müssen die Leute sich wohlverhalten. Wenn sie es nicht tun, haben sie sehr schnell keine Arbeit und kein Dach mehr über dem Kopf. So ist das hier nun mal.«
    Â»Und dein Cottage, Daniel?«
    Â»Unser Cottage – und das Land – gehört meiner Mutter. Ihr Großvater hat es den Blythes für ein paar Scheffel Kartoffeln abgekauft. Im Frühjahr steht es immer unter Wasser, wahrscheinlich haben sie es deswegen abgegeben.« Er begann, über den Deich zu wandern, Thomasine folgte ihm. »Deswegen will ich die Schule weitermachen. Wenn ich mein Abschlußdiplom schaffe, muß ich nicht für die Blythes und nicht für meinen Vater arbeiten.«
    Â»Willst du denn kein Schmied werden?« fragte Thomasine überrascht. Ihr gefiel die Esse – die Pferde, das Zischen, wenn das heiße Metall ins Wasser getaucht wurde.
    Â»Mein Vater verprügelt mich«, antwortete Daniel schlicht.
    Thomasine wußte, daß Jack Gillory zuviel trank – das ganze Dorf wußte das –, und sie hatte Daniel häufig mit einem blauen Auge oder einer aufgeplatzten Lippe gesehen. Als sie im vorigen Sommer zusammen im Mühlteich schwammen, hatte sie rote Striemen auf seinem Rücken entdeckt. Wieder kam Wut ihr hoch.
    Â»Was möchtest du einmal werden, Thomasine?« fragte Daniel.
    Â»Tante Hilly möchte, daß ich Lehrerin werde. Sie meint, ich sei gut in Mathematik. Tante Rose glaubt, daß ich heiraten werde.«
    Keine der beiden Möglichkeiten fand sie besonders reizvoll. Sie konnte Daniel Gillory, der in den Fens geboren war, nicht erklären, daß die Landschaft sie zuweilen einengte und sie sich regelrecht eingekerkert fühlte. Daß ihr die Enge des

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