Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
fein gebundenen Buch.«
Lachend vor Entzücken umarmten wir einander immer wieder. Ein Traum war Wirklichkeit geworden. Es sollte jedoch zwei lange Monate dauern, bis unser kleines Buch in den Kritiken irgendeine Erwähnung fand. Inzwischen war eine Katastrophe so ungeheuren Ausmaßes über unseren Haushalt hereingebrochen, dass jeder Gedanke an literarischen Ruhm völlig aus unseren Köpfen verbannt war.
Reverend Edward Robinson war gestorben. Wir erfuhren davon in der ersten Juniwoche, gleich nach Pfingsten, als Branwell von einem seiner Zuträger im Haushalt der Robinsons einen Brief erhielt.
»Endlich!«, rief er mit wilder Freude aus und hielt den Brief an seine Brust gepresst, als er ins Esszimmer gestürmt kam, wo meine Schwestern und ich eifrig damit beschäftigt waren, unsere Manuskripte mit Tinte ins Reine zu schreiben. Wir deckten rasch unsere Arbeiten ab, aber Branwell war zu sehr in seinem Wirbel der Gefühle befangen, als dass er bemerkt hätte, was wir machten.
»Der alte Mann ist weg!«, fuhr er freudig fort. »Tot und begraben. Endlich ist meine Lydia frei! Jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit. Schon bald werden alle meine Träumeund Hoffnungen in Erfüllung gehen. Ich werde der Gatte der Dame, die ich auf der ganzen Welt am meisten liebe. Nie mehr werde ich von den unzähligen widrigen Kleinigkeiten belästigt, die uns in der Welt der täglichen Plagen wie Mücken stechen und ärgern! Ich werde das geruhsame Leben eines Gentleman genießen und mir einen Namen in der Welt des Wohlstands machen!«
Wir wussten kaum, was wir darauf antworten sollten. Alles, was wir hätten sagen können, hätte jedoch wenig Aufmerksamkeit gefunden. Branwell war in einem solchen Fieber der Erwartung, dass er während der nächsten drei Tage und vier Nächte weder aß noch schlief, sondern mit seinem Gefühlszustand rings um sich herum alles in Aufruhr und Verwirrung versetzte, während er begierig auf eine Nachricht von »seiner Lydia« wartete.
Als diese Nachricht jedoch eintraf, zerschmetterte sie alle Hoffnungen, die Branwell gehabt hatte. Mrs. Robinson schickte ihren Kutscher, Mr. Allison, um die Sachlage zu erläutern: Mr. Robinson hatte kürzlich sein Testament geändert, und eine neue Klausel darin verbot der Witwe, sich in irgendeiner Weise mit Branwell in Verbindung zu setzen. Anderenfalls würde sie jeglichen Anspruch auf das Erbe verlieren. Außerdem war Mrs. Robinson, weil sie von Reue über ihr Verhalten ihrem verstorbenen Gatten gegenüber geplagt war, nur noch ein Schatten ihrer selbst und zog – wie der besagte Mr. Allison versicherte – gegenwärtig in Betracht, sich in ein Kloster zurückzuziehen.
Wir konnten nicht sicher sein, wie viel davon der Wahrheit entsprach, insbesondere was das Testament betraf. Es war uns nie wahrscheinlich erschienen, dass eine reiche, verwöhnte Frau wie Mrs. Robinson, der während der Ferienreisen das Geld für alle möglichen Flitter und Tand durch die Finger rannwie Wasser (das hatte uns Anne berichtet), ihren bequemen Lebensstil gefährden und sich die Verachtung der Gesellschaft zuziehen würde, indem sie jemanden wie Branwell heiratete, einen bettelarmen ehemaligen Hauslehrer ohne Anstellung. Die Dame hatte jedoch meinen Bruder so sehr in ihren Bann gezogen, dass er dies niemals bezweifelt hatte. 1
Als dieser letzte Schlag auf ihn niederging, war Branwell bereits ein solches körperliches und geistiges Wrack, dass ihn die Nachricht an den Rand des Wahnsinn trieb. Wir, die wir geglaubt hatten, er könne kaum noch tiefer sinken, als er ohnehin schon gesunken war, sollten unverzüglich eines Besseren belehrt werden. Den ganzen restlichen Tag lang lag er im Pfarrhaus auf dem Fußboden, blökte ohne Unterlass wie ein neugeborenes Kalb und kreischte, sein Herz sei endgültig gebrochen. Als sich an jenem Abend der Haushalt zum Abendgebet in Papas Studierzimmer versammelte, kam Branwell plötzlich mit irrem Blick in den Raum gestürzt und schrie: »Gib mir Geld, Alter, und zwar sofort.«
Er hielt Papas Pistole in der Hand. Martha, Tabby und meine Schwestern kreischten vor Entsetzen.
»Branwell«, rief ich, und mein Herz hämmerte vor Angst, »was machst du da? Leg sofort die Pistole weg!«
Papa erbleichte. »Mein Sohn, hast du etwa meine Pistole?«
»Ja, und sie ist geladen und auf dein Herz gerichtet. Gib mir sechs Shilling, oder, das schwöre ich, ich bringe dich um, und meine Schwestern gleich noch mit dazu.«
»Charlotte«, sagte Papa ruhig, »du
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