Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
Nicholls?«, fragte ich überrascht.
»Ja, wirklich. War ungefähr vor ’ner Woche, da war der Kater verschwunden. Vier Tage lang haben wir nicht das kleinste Schnurrhaar von ihm gesehen. Die Kinder waren ganz außer sich vor Sorge, haben geheult, was das Zeug hielt. Ich hab auch ein Tränchen vergossen, so sicher waren wir, dass wir den Burschen nie wiedersehen würden. Da steht doch Mr. Nicholls vor der Tür und hat den Kater auf dem Arm. Er war in der Sonntagsschule in einen Vorratsschrank eingesperrt, sagt er. Mr. Nicholls ist vorbeigekommen und hat ihn miauen gehört. Gott weiß, das arme Vieh wäre sonst gestorben. Wir stehen tief in Mr. Nicholls’ Schuld, und nicht nur wegen des Katers. Ich segne den Tag, an dem der Herr in diese Gegend gekommen ist, das kann ich Ihnen sagen.«
»Oh?«, fragte Anne. »Warum denn das, Mrs. Ainley?«
»Mr. Nicholls ist so gut zu uns. Es ist so anders als der letzte Hilfspfarrer, Mr. Smith, den hat man ja kaum gesehen, außer in der Kirche, und der hat sich um nichts außer um sich selbst gekümmert. Aber Mr. Nicholls, der kommt regelmäßig vorbei und liest mir meine Lieblingsstellen aus der Bibel vor, denn Sie wissen ja, ich selbst kann nicht so gut lesen, und dann reden wir immer so nett über Gott und das Leben und so. Er spricht mit mir wunders wie nett und sitzt neben mir, gerade wie ein Sohn oder ein Bruder. Das ist für mich ein solcher Trost, seine Besuche.«
Als ich diese Worte hörte, stach ich meine Nadel mit kaum verhohlenem Ärger in den Saum, an dem ich nähte. Konnteich denn nirgends hingehen, fragte ich mich, ohne Loblieder auf Mr. Nicholls anhören zu müssen? Meine Empörung verwandelte sich in Schrecken, als ich wenige Minuten später hörte, wie ein Karren vors Haus gerumpelt kam und stehen blieb. Dann ertönte ein Pochen an der Tür. Mrs. Ainley öffnete, und da stand der soeben erwähnte Herr mit dem Hut in der Hand.
»Ich wünsche einen schönen Nachmittag, Mrs. Ainley«, sagte Mr. Nicholls, während er die Köpfe der kichernden Kinder neben sich tätschelte, die wieder versuchten, zur Tür hereinzuschauen. »Es ist mir neulich aufgefallen, dass Ihre Kohlenvorräte langsam zur Neige gingen. Ich dachte, es könnte vielleicht eine Weile dauern, bis Sie neue Kohle bekämen. Da habe ich ein bisschen bei unseren anderen Gemeindegliedern gesammelt und so dafür gesorgt, dass Ihnen heute Kohle geliefert wird, die hoffentlich bis zum Sommer reicht.«
Das plötzliche Erscheinen von Mr. Nicholls erschreckte mich so, dass ich mir aus Versehen mit der Nadel in den Finger stach. Ich unterdrückte einen Aufschrei, zog mich so weit wie möglich in meine Ecke zurück, verfluchte den ungeschickt gewählten Zeitpunkt unseres Besuchs und hoffte, er würde mich nicht bemerken.
»Mr. Nicholls, Sie sind die Güte in Person!«, rief Mrs. Ainley, die aussah, als würde sie gleich Freudentränen vergießen. »Was für ein Segen das ist!«
»Haben Sie eine Schubkarre, damit wir die Kohle in den Verschlag bringen können?«, fragte Mr. Nicholls. Dann schaute er zur Tür herein und erblickte Anne und mich. Er erstarrte vor Überraschung.
»Die Schubkarre ist hinter dem Haus«, erwiderte Mrs. Ainley. »Ich zeige sie Ihnen.«
Nun folgte einige Geschäftigkeit. Mr. Nicholls half demFuhrmann, die Kohle in den Verschlag zu schaffen, worauf das Pferdefuhrwerk wieder wegfuhr. Als Mrs. Ainley und Mr. Nicholls zur Vordertür zurückkehrten, hörte ich ihn sagen: »Dürfte ich noch Ihren Kohleneimer füllen, Madam, ehe ich gehe? Es ist kalt heute, und es sah mir so aus, als könnte Ihr Feuer ein bisschen mehr Kohle vertragen.«
»Gott segne Sie, Sir!«, rief die dankbare Frau, während Mr. Nicholls ihr ins Haus folgte. Als er an Anne und mir vorüberging, reagierte er auf unsere Anwesenheit mit einem distanzierten Nicken und ohne ein Lächeln, was ich meinerseits mit einem ebenso kühlen Nicken beantwortete. Dann füllte er draußen die Kohlenschütte und brachte sie wieder ins Haus. Mit vorsichtigen Schritten ging er um das inzwischen schlafende Kind herum und legte einige Stücke Kohle aufs Feuer. Ich neigte den Kopf tief über meine Arbeit. Nach einer kleinen Pause, in der ich spürte, wie Mr. Nicholls’ Augen auf mir ruhten, fragte er: »Haben Sie einen Nähzirkel gegründet?«
»Nein«, antwortete Mrs. Ainley. »Die Brontës sind grad gekommen, um die hübschen neuen Kleider zu bringen, die sie für meine Kleinen genäht haben. Sie sind noch dageblieben, um mir Gesellschaft
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