Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
große, freundliche, aber müde wirkende Frau in einem schäbigen braunen Kleid. Sie war vierzig, sah aber zehn Jahre älter aus. »Der Herrgott weiß, ich hab auch nur zwei Hände, und mit acht Kindern, da komm ich grad rum, ihnen die Mäuler mit Essen zu stopfen, aber die Näherei, die’s braucht, um die alle anzuziehen, die schaff ich nicht mehr, grad wenn’s so kalt ist wie jetzt, und ich hab doch so Rheuma in den Händen und überhaupt.«
Die Kinder versuchten, uns ins Haus zu folgen, aber die Mutter scheuchte sie wieder heraus. »Geht draußen spielen, alle miteinander! In dem kleinen Haus hier ist nicht genugPlatz für so viele. Und ich will mich mal mit den Damen unterhalten, unter Erwachsenen.«
Mich überlief ein Schauder, als wir ins Haus traten. Es war dort dunkel, stickig und kalt. Außerdem roch es nach Rauch, aber es war so ordentlich und sauber, wie Mrs. Ainley es nur machen konnte. Sie bot uns Bier an, was wir dankend ablehnten, da uns wohl bewusst war, wie wenig sie es sich leisten konnte, es mit uns zu teilen. Sie hielt immer noch das Baby (ein hübsches, lächelndes kleines Mädchen mit einem blonden Lockenkopf) im Arm und wischte rasch für uns über zwei der besten Stühle an der Feuerstelle. Da mir bekannt war, dass einer davon ihr Lieblingsstuhl war, sagte ich, ich würde lieber auf dem harten kleinen Schemel in einer Ecke beim Fenster sitzen.
»Tut mir leid, dass es hier drin so kalt ist«, entschuldigte sich Mrs. Ainley, während sie im Kamin stocherte, in dem nur ein paar rotglühende Kohlebrocken und einige wenige Holzstücke lagen. »Unser Vorrat an Kohlen und Torf ist so gut wie aufgebraucht, und es sieht nicht so aus, als würden wir mehr kriegen. Seit die in der Fabrik die Löhne gekürzt haben, geht’s uns verzweifelt schlecht. Wo doch das Brot und die Kartoffeln so teuer sind, da verdient mein Mann kaum genug, dass wir alle zu essen haben, auch wenn er von morgens bis abends schuftet. Meine Älteste ist ja Hausmädchen, und die schickt ab und zu was nach Hause, aber das ist auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.«
Anne und ich drückten unsere aufrichtige Bestürzung über die furchtbaren Arbeitsbedingungen in der Stadt aus. Wir wussten, dass sie für viele Elend und Entbehrungen gebracht hatten.
»Ach, da kann man nix machen, das soll ja mit dem schlechten Handel zu tun haben, sagen sie jedenfalls.« Mrs. Ainleylegte das Kleinkind auf eine Decke zu ihren Füßen, wo es gut gelaunt und friedlich am Daumen lutschte. Dann setzte sie sich vor uns hin und stieß bei jedem Kleidungsstück, das wir ihr überreichten, Begeisterungsrufe aus und dankte uns überschwänglich.
»So fein genäht, wie Sie das machen, das kriegt man nicht oft zu sehen. Oh! Ich wünschte, ich könnte so nähen! Gott sei Dank kann ich noch stricken, wenn ich die Zeit finde, aber eine Nähnadel, die können meine armen Hände kaum noch halten. Seit vier Monaten versuche ich, ein Sonntagshemd für meinen Sohn John fertigzukriegen; er braucht es so nötig, aber Gott weiß, wie ich das schaffen soll.«
»Ich würde sehr gern das Hemd für Sie nähen«, bot ich an.
»Ich kann auch helfen«, fügte Anne hinzu. »Wir können gleich damit anfangen, während wir hier sind, wenn Sie möchten.«
»Oh! Das ist aber wirklich zu nett von Ihnen beiden. Das kann ich nie wiedergutmachen, so viel Freundlichkeit.«
»Da gibt es nichts wiedergutzumachen, Mrs. Ainley«, sagte ich. »Wenn wir etwas tun können, um Ihnen das Leben ein wenig zu erleichtern, dann bereitet uns das große Freude.«
Dankbar brachte uns Mrs. Ainley die Teile des unvollendeten Hemdes und ihr Nähkästchen. Ich fand darin zwei Messingfingerhüte, die Anne und ich nur auf unsere winzigen Finger stecken konnten, nachdem wir diese mit ein wenig Papier umwickelt hatten. Und schon bald waren wir bei der Arbeit und nähten an dem Hemd, während Mrs. Ainley einen Strumpf strickte. Wenige Augenblicke später kam eine große getigerte Katze aus dem Nebenzimmer hereinspaziert, legte sich vor den Kamin und leckte sich träge und mit halb geschlossenen Augen ihre Samtpfötchen, während sie in die vergehende Glut in dem verbeulten Feuerkorb schaute.
»Der Kater ist schon beinahe zwölf Jahre alt«, erklärte Mrs. Ainley und schaute voller Zuneigung auf das Tier. »Der gehört zur Familie, wahrhaftig. Ich wüsste nicht, was wir ohne ihn machen würden. Und er ist zudem ein Glückskater. Erst neulich hat Mr. Nicholls ihm das Leben gerettet.«
»Mr.
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