Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
wieder zurückgekehrt war. Er erzählte mir all die kleinen Neuigkeiten von Zuhause, berichtete mir von all denen, die ich so sehr vermisste und so liebte; und ehe wir uns versahen, war die Zeit gekommen, dass er gehen musste.
»Du kommst doch bald nach Hause, nicht?«, fragte Branwell, als wir uns in der Einfahrt zum Schulhaus voneinander verabschiedeten.
»Ja, in fünf Wochen ist das Schuljahr zu Ende.« Tränen strömten mir über die Wangen, und ich bemerkte, wie auch seine Augen feucht wurden. Wir umarmten einander fest. »Ichdanke dir so sehr, dass du gekommen bist«, hauchte ich meinem Bruder ins Ohr. »Es hat mir die Welt bedeutet.«
Jetzt – fünfzehn Jahre später – bereitete mir die Erinnerung an jenen goldenen Tag im Mai erneut Schmerzen, und ich schluchzte bebend. Niemals würde diese unschuldige, selige Zeit wiederkehren. Es schien mir, dass mein lieber Bruder, der Junge, der unser ganzer Stolz gewesen war, der so wunderbar und vielversprechend gewesen war, uns nun für immer verloren war.
Gott sei Dank waren meine Schwestern und ich mit dem Schreiben unserer Romane beschäftigt; dieses Abenteuer lenkte uns von der finsteren Atmosphäre ab, die im Pfarrhaus herrschte. Am 4. Juli 1846 erschienen endlich zwei Kritiken zu unserem Gedichtband in der Presse. Zu unserer Bestürzung beschäftigte sich die erste zum großen Teil mit der geheimnisvollen Identität der Bells.
»Wer sind Currer, Ellis und Acton Bell?«, las ich meinen Schwestern laut aus der Besprechung im
Critic
vor, als wir alle drei auf der Wiese neben dem Pfarrhaus unter dem raschelnden Laub eines Baumes ausgestreckt lagen. Ein Westwind wehte, und strahlend weiße Wolken zogen rasch über uns hinweg. In der Ferne erstreckten sich unendlich weit die Moore, ab und zu unterbrochen durch kühle, dämmerige Mulden. Aber rings um uns herum tanzten die hohen Gräser in der Brise, und die Lerchen, Drosseln, Amseln, Hänflinge und Kuckucke jubelten herrlich. »Ob die Dichter aus der Vergangenheit oder der Gegenwart stammen, ob es Engländer oder Amerikaner sind, wo sie geboren sind oder wo sie wohnen, wie alt sie und welchen Standes sie sind, sogar, wie ihre Vornamen lauten, all das hat der Verlag dem neugierigen Leser vorenthalten.« Ich ließ die Zeitung ein wenig betroffen sinken.»Es scheint, als hätten wir bei dem Versuch, unser Geschlecht zu verschleiern, unwillentlich ein Geheimnis geschaffen.«
»Sagt er denn nichts über die Qualität unserer Gedichte?«, fragte Emily.
»Ja, weiter unten.« Ich las weiter. »Es ist lange her, dass wir einen Band mit derart unverfälschter Lyrik so sehr genossen haben. Zu den Bergen von Schund und Geschwätz in Versform, die sich auf dem Schreibtisch eines jeden Literaturkritikers häufen, ist dieses kleine Büchlein von nicht einmal 170 Seiten wie ein Sonnenstrahl gekommen und hat das Auge im gegenwärtigen Augenblick mit Herrlichkeit und das Herz mit Vorfreude auf weitere wunderbare Stunden in der Zukunft entzückt. Endlich einmal gute, erbauliche, erfrischende und kraftvolle Gedichte …«
Emily riss mir die Zeitung aus der Hand und las eifrig weiter: »Diejenigen, in deren Herzen es noch Saiten gibt, die von der Natur angerührt werden, die mit dem Schönen und Wahren in dieser Welt mitfühlen, werden in den Werken von Currer, Ellis und Acton Bell mehr Genie finden, als man in unserem auf Zweckmäßigkeit ausgerichteten Zeitalter vermutet hätte, und noch dazu auf höherer intellektueller Ebene.« Mit verdutztem Gesicht wiederholte sie das einzige Wort, das ihre Aufmerksamkeit gefesselt hatte. »Genie.«
»Ist die zweite Kritik genauso gut?«, fragte Anne ruhig.
»Nicht ganz«, erwiderte ich und wandte mich dem Artikel im
Athenaeum
zu, den ich bereits gelesen hatte. »Der Schreiber beschuldigt Acton und Currer des ›Schwelgens in Gefühlen‹, lobt jedoch zu recht Ellis, der, wie er sagt, ›einen offensichtlich kräftigen Flügelschlag besitzt, mit dem er noch weitere, hier nicht in Angriff genommene Höhen erreichen könnte‹.«
»Nun« meinte Emily und lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln im Gras zurück, »das ist doch schon mal was.«
»Ganz gewiss ist es das«, pflichtete ich ihr bei. »Es scheint, dass die Ausgabe, die wir mit der Veröffentlichung auf uns genommen haben, gerechtfertigt war.«
Der Schein trügt jedoch manchmal, wie wir schon bald feststellen sollten. Obwohl im Oktober eine weitere gute Kritik erschien und wir noch einmal 10 Pfund für Werbung ausgaben,
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