Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
wollte niemand unseren Gedichtband haben. Ein Jahr nach seiner Veröffentlichung waren erst zwei Exemplare verkauft! An jenem warmen Julitag 1846 aber konnten meine Schwestern und ich noch nichts vom Schicksal des kleinen Buches ahnen. Selbst wenn eine Wahrsagerin uns gewarnt hätte, dass unser erster Ausflug in die Welt der Verlage sich schließlich als völliger Misserfolg herausstellen würde, hätten wir uns unsere Hochstimmung davon sicher nicht verderben lassen. Denn wir hatten uns ja inzwischen größeren, kühneren Dingen zugewandt: Jede von uns hatte einen Roman vollendet und ihn ins Reine geschrieben, sodass er bei einem Verleger eingereicht werden konnte.
ZWÖLF
Diesmal hegten wir jedoch nicht die Absicht, unsere Werke auf eigene Kosten drucken zu lassen. Anfang Juli verpackte ich die Manuskripte und schickte sie an den ersten Namen auf einer Liste von Londoner Verlegern, die ich zusammengestellt hatte. Ich erklärte im Begleitschreiben, die Autoren hätten sich bereits der Öffentlichkeit präsentiert. Da es üblich war, Romane in Sätzen von drei Bänden zu vertreiben, beschrieb ich die Werke als »drei Geschichten, jede einen Band lang, die sowohl gemeinsam als auch separat erscheinen könnten, je nachdem was man für ratsam hält«.
Während wir auf Antwort warteten, war ich genötigt, all meine Aufmerksamkeit meinem Vater zu widmen. Lange schon hatten wir Papa bei den einfachsten Dingen des täglichen Lebens helfen müssen. Nun war sein Augenlicht völlig erloschen.
Im August 1846 begleitete ich Papa nach Manchester. Dort unterzog er sich einer Augenoperation bei Mr. Wilson, einem Augenspezialisten von einigem Ansehen, mit dem Emily und ich uns Anfang des Monats bereits beraten hatten. Wir mieteten eine Unterkunft, wo Mr. Wilson am 25. August zusammen mit zwei Assistenten den Eingriff vornahm. Er beschloss, zunächst nur ein Auge zu operieren, falls es zu einer Infektion kommen sollte. Papa legte während der gesamten Prozedur außerordentliche Geduld und Gefasstheit an den Tag. Danach musste er sich mit verbundenen Augen in einem verdunkelten Zimmer aufhalten, wo ihn eine Krankenpflegerin betreute, die Anweisung hatte, ihn jeweils mit acht Blutegeln an den Schläfen zu schröpfen, um eine Entzündung zu verhindern. Er sollte sich vier Tage lang nicht viel bewegen und unsereUnterkunft fünf Wochen lang nicht verlassen. Und wir sollten so wenig wie möglich mit ihm sprechen.
Nun begann eine lange Wartezeit.
Am Morgen desselben Tages war ein Brief von Emily eingetroffen, in dem sie mir höchst sachlich mitteilte, unsere drei Manuskripte seien zurückgekommen, begleitet von einigen kurzen ablehnenden Worten von Henry Colburn, dem ersten Verleger, an den ich sie geschickt hatte. Obwohl ich mich entmutigt fühlte, schenkte ich an jenem Tag Emilys Brief trotzdem nur wenig Aufmerksamkeit, denn all mein Trachten zielte darauf ab, es Papa so bequem wie möglich zu machen und ihm so viel Unterstützung zu geben, wie er brauchte. Jetzt, da der Eingriff hinter ihm lag, saß ich in der Hitze des Augustabends verlassen in einem stickigen, engen roten Ziegelbau in einer Häuserzeile in Manchester und konnte nicht umhin, über unsere Zukunft nachzugrübeln.
Ich konnte und wollte diese Niederlage nicht hinnehmen. Aus meinem Koffer holte ich das Reiseschreibpult, das ich stets bei mir führte, wenn ich unterwegs war. Ich klappte es auf einem kleinen, verschrammten Tisch am Fenster auf und schrieb einen kurzen Brief an Emily, in dem ich sie bat, unsere Werke erneut einzuschicken. Von Unruhe getrieben, erhob ich mich und begann in dem kleinen Wohnzimmer auf und ab zu schreiten.
Wie seltsam es doch war, an einem wenig vertrauten Ort zu leben, noch dazu in solcher erzwungener Abgeschiedenheit! Was sollte ich nur, fragte ich mich, in den kommenden fünf Wochen mit mir anfangen? Zu meiner Enttäuschung durfte ich Papa nicht einmal durch Gespräche ein wenig erheitern. Meine Tage, das wusste ich, würden lang und voller Sorgen und ohne jede Beschäftigung sein. Zu allem Überfluss litt ich auch noch an heftigen Zahnschmerzen – und dieser körperlicheSchmerz war ebenso quälend wie meine tiefe Einsamkeit. Ich brauchte dringend Ablenkung.
Da flüsterte mir eine innere Stimme die Lösung für mein Dilemma zu, eine Stimme, die so unerwartet deutlich und klar war, dass ich wie gebannt stehenblieb.
»Es gibt einen Ort«, sagte die Stimme in meinem Kopf, »an dem du in Notzeiten immer Trost und Zuflucht gefunden hast:
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