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Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Titel: Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Syrie James
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was geschehen war.
    »Anne«, sagte ich, »ich zolle deinem Mut Beifall, ThorpGreen zu verlassen, wenn du dort unglücklich warst; du weißt, wie sehr auch ich das Leben einer Gouvernante verabscheut habe. Aber dass du eine so sichere Stellung aufgibst, ausgerechnet jetzt, da unsere materielle Zukunft derart ungewiss ist – das überrascht mich wirklich. Was ist geschehen? Was hat diese so plötzliche und endgültige Abreise herbeigeführt? Warum hast du in deinen Briefen nie etwas davon erwähnt?«
    Anne errötete und blickte sonderbarerweise zu Branwell, der geschäftig dafür sorgte, dass ihr Schrankkoffer und alle Taschen auf einen wartenden Wagen geladen und zu uns nach Hause gebracht wurden. »Es ist nichts Wichtiges. Ich bin es einfach überdrüssig geworden, Gouvernante zu sein, das ist alles.«
    Emily schaute sie an. »Du weißt doch, dass ich in deinem Gesicht lesen kann wie in einem Buch, Anne. Irgendetwas bedrückt dich – etwas Neues. Was ist es? Was verschweigst du uns?«
    »Es ist nichts«, beharrte Anne. »Oh! Wie gut es tut, wieder zu Hause zu sein! Nun – beinahe zu Hause. Wie ich mich auf diesen Tag gefreut habe!«
    Branwell, dessen Verhandlungen mit dem Kutscher nun abgeschlossen waren, kehrte mit weit geöffneten Armen und einem breiten Lächeln zu uns zurück. »Kommt her, lasst euch drücken! Wie geht es meinen liebsten älteren Schwestern?« Emily und ich lächelten und umarmten ihn. »Wir sind bei bester Gesundheit und noch besserer Laune«, antwortete ich, »nun, da ihr hier seid, um uns Gesellschaft zu leisten.«
    Mein Bruder mit seinen siebenundzwanzig Jahren war mittelgroß und sah gut aus. Er hatte breite Schultern und eine schlanke, sportliche Figur; eine Brille saß auf seiner römischen Nase, und er trug keck die Mütze schief auf seinem kinnlangen roten Haarschopf. Branwell war intelligent, leidenschaftlichund begabt; er strahlte eine Aura höchsten Selbstvertrauens aus und war sich seiner männlichen Attraktivität bewusst. Er besaß leider auch einen unglückseligen, im letzten Jahrzehnt entwickelten Hang zum Alkohol und – zu unserem ständigen Entsetzen und unserer Beschämung – ab und zu einer Dosis Opium. Erleichtert bemerkte ich, dass heute seine Augen klar und ungetrübt waren und voller Humor strahlten.
    »Warum hast du nie geschrieben?«, wollte ich wissen und knuffte ihn mit spielerischem Ärger. »Ich habe dir in den letzten sechs Monaten gewiss ein Dutzend Briefe geschickt, und du hast nie geantwortet.«
    »Ich hatte in den letzten Monaten weder die Zeit noch die Muße für Korrespondenz. Ich war beinahe jede Minute beschäftigt.«
    »Dann ist es gut, dass du nach Hause gekommen bist, um dich zu erholen«, sagte ich.
    »Papa freut sich so sehr darauf, euch beide zu sehen«, warf Emily dazwischen und hakte sich bei Branwell unter, als wir den Bahnhof verließen. »Wenn wir schnell gehen, kommen wir gerade rechtzeitig zum Tee heim.«
    »Es ist viel zu heiß, um jetzt nach Hause zu laufen«, beschwerte sich Branwell. »Lasst uns erst im ›Devonshire Arms‹ einkehren und warten, bis es etwas kühler geworden ist, ehe wir uns auf den Heimweg machen.«
    Meine Schwestern und ich warfen einander verstohlene Blicke zu. Wir wussten genau, dass Branwell niemals in einem Gasthaus einkehren konnte, ohne etwas zu trinken – und seine Wahl würde sicherlich nicht auf Tee fallen. Aus einem Glas würden drei oder fünf werden, und auf gar keinen Fall wollten wir, dass unser Bruder bei seiner Heimkehr betrunken wäre.
    »Ich habe Papa versichert, dass wir unverzüglich nach Hause kommen«, sagte ich.
    »Es ist auch nicht zu heiß«, fügte Anne rasch hinzu.
    »Es ist ein herrlicher Tag, gerade richtig zum Laufen«, beharrte Emily.
    Branwell seufzte und verdrehte die Augen. »Na gut. Ich sehe, dass in
dieser
Gesellschaft die Stimme eines einzelnen Mannes nicht zählt.«
    Wir gingen die Hauptstraße von Keighley hinunter, einer wohlhabenden Stadt mit einem geschäftigen, relativ neuen Marktplatz, der von einer Reihe hübscher Gebäude gesäumt war. Die Stadt lag ein wenig ungünstig in einem Kessel zwischen Anhöhen. Der Himmel hier war oft vom Rauch der vielen Fabriken in den Außenbezirken verdunkelt, doch wir kamen trotzdem häufig her, da in Keighleys vielen Geschäften Waren und Dienste angeboten wurden, die in unserem winzigen Dorf nicht erhältlich waren.
    »Wie geht es Papa?«, erkundigte sich Anne.
    »Er ist nie schlecht gelaunt, nie ungeduldig, nur ängstlich und

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