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Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë

Titel: Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Syrie James
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Holzbank im Bahnhof von Keighley, als ein schriller Pfeifton die Ankunft des Vier-Uhr-Zugs ankündigte. Die Lokomotive fuhr donnernd in den Bahnhof ein und kam unter scharfem Quietschen der Bremsen und in gewaltige Dampfwolken eingehüllt zum Stehen. Mehrere andere Fahrgäste stiegen aus. Endlich erspähte ich Anne, und wir rannten wie der Wind auf sie zu.
    »Was für eine wunderbare Überraschung!«, rief Emily und umarmte sie, »dich schon früher bei uns zu Hause zu haben.«
    Anne war fünfundzwanzig Jahre alt, so klein und schmal wie ich und mit einem lieblichen, angenehmen Gesicht und einem wunderschönen blassen Teint gesegnet. Ihre sanfte Natur strahlte ihr aus den veilchenblauen Augen; sie trug das hellbraune Haar hochgekämmt und hinten zusammengesteckt, und kleine Löckchen fielen ihr in eleganten Wellen in den Nacken. Als Kind war Anne von einem Lispeln geplagt gewesen, das sie zum Glück abgelegt hatte, als sie heranwuchs; es hatte sie jedoch zurückhaltend und schüchtern werdenlassen. Gleichzeitig besaß sie eine ruhige Art, die, getragen von ihrem tiefen und unerschütterlichen Glauben an ein höheres Wesen und an das angeborene Gute in den Menschen, kaum zu erschüttern war. Wie sehr sich ihre Überzeugungen in Bezug auf Letzteres in jüngster Zeit geändert hatten, sollte ich schon bald erfahren.
    Ich betrachtete Annes Miene, die mir blasser als gewöhnlich zu sein schien. Als ich sie umarmte, fühlte sich ihr Körper dünn und vogelgleich an. »Geht es dir gut?«, fragte ich besorgt.
    »Ja, mir geht es gut. Wie schön dein neues Sommerkleid ist, Charlotte! Wann hast du es genäht?«
    »Es ist letzte Woche fertig geworden.« Obwohl ich mit dem Kleid zufrieden war, das ich aus blassblauer Seide mit kleinen eingewirkten weißen Blumen gefertigt hatte, war ich nicht gewillt, über meine Kleidung zu sprechen; mir schien, dass Anne es nur erwähnt hatte, um mich von meiner Frage abzulenken. Ehe ich mich jedoch weiter erkundigen konnte, sprang schon mein Bruder aus dem Zugabteil und bellte zwei Gepäckträgern Befehle zu, die einen alten, sehr vertraut wirkenden Schrankkoffer auf den Bahnsteig hievten.
    »Anne!«, rief ich überrascht. »Ist das deiner?«
    Anne nickte.
    »Warum hast du ihn mitgebracht? Oh! Kommst du für immer nach Hause zurück?«, rief Emily glücklich.
    »Ja. Ich habe gekündigt. Ich werde nie wieder nach Thorp Green zurückkehren.« Erleichterung zeichnete sich auf Annes Zügen ab, doch gleichzeitig schienen ihre Augen voller unausgesprochener Sorgen zu sein.
    »Wie ich mich freue!«, sagte Emily und umarmte Anne erneut. »Ich weiß nicht, wie du es überhaupt so lange dort ausgehalten hast.«
    Diese Nachricht erstaunte mich. Ich wusste allerdings, dass Anne vom allerersten Tag als Gouvernante bei den Robinsons unglücklich gewesen war. Sie war wohl diejenige, die die größte Enttäuschung darüber verspürte, dass unsere Pläne, eine Schule aufzubauen, sich nicht verwirklichen ließen, denn dieses Unterfangen hätte ihr, wie sie es formulierte, »eine legitime Fluchtmöglichkeit aus Thorp Green« geboten. Anne hatte uns nie anvertraut, was genau ihr dort nicht gefiel, außer dass sie uns ihre allgemeine Unzufriedenheit mit der Stellung einer Gouvernante eingestand. Und ich hatte es nicht für richtig befunden, weiter in sie zu dringen.
    Manchen mag es merkwürdig erscheinen, dass Schwestern, die einander im Alter so nahestehen, die einander in ihrer Bildung, ihrem Geschmack und ihren Empfindungen so ähneln und die so fest durch Gefühle miteinander verbunden sind, trotzdem noch einen Teil ihrer Persönlichkeit und ihres Lebens völlig für sich behalten können; aber so war es. Als wir in unserer Kindheit den erschütternden Verlust unserer Schwestern Maria und Elizabeth erleiden mussten, entwickelten wir uns zu Expertinnen in der Kunst, unseren Schmerz – und damit auch unsere innersten Gedanken und Gefühle – tapfer hinter einer fröhlichen Fassade zu verbergen. Als wir Jahre später voneinander getrennt wurden und unserer eigenen Wege gingen, behielten wir diese Gewohnheit bei.
    So hatte ich trotz allem, was ich in meinem zweiten Jahr in Brüssel erlitten hatte, tatsächlich nie auch nur mit einem einzigen Wort einer meiner Schwestern etwas davon erzählt. Wie konnte ich da erwarten, dass Anne offener zu mir war, als ich es je zu ihr gewesen bin? Jetzt jedoch, da sich die Angelegenheit anscheinend sehr zugespitzt hatte und sie wieder zu Hause war, musste ich einfach wissen,

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