Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
so jung.«
»Jung? Natürlich ist er jung! Mein liebes Mädchen, für 90 Pfund im Jahr kann man schließlich keinen erfahrenen Hilfspfarrer erwarten. Er ist noch nicht einmal ordiniert, sodass wir etwa einen Monat warten müssen, ehe er hier seine Pflichten aufnehmen kann.«
»Noch einen Monat? Es ist so viel zu tun! Kannst du es dir leisten, so lange zu warten, Papa?«
Papa lächelte. »Ich denke, Mr. Nicholls wird das lange Warten wert sein.«
ZWEI
In der letzten Maiwoche zog Mr. Nicholls als Untermieter in das Haus des Küsters ein. Das niedrige Steingebäude grenzte an die Kirchenschule an und lag nicht weiter als einen Steinwurf entfernt – von uns nur durch das Kopfsteinpflaster der Gasse zwischen dem Pfarrhaus und seinem kleinen ummauerten Garten getrennt. Mir war die Aufgabe zugefallen, den neuen Hilfspfarrer im Dorf willkommen zu heißen; und das tat ich einen Tag nach seiner Ankunft, indem ich den üblichen Korb mit selbstgemachten Lebensmitteln zusammenstellte.
Es war ein schöner Frühlingsmorgen. Ich trat mit meinem Geschenk aus dem Tor des Pfarrhauses und nickte grüßend dem Steinmetz in seinem Schuppen zu, der sich emsig mit dem Meißel zu schaffen machte und die Namen und Lebensdaten der unlängst Verstorbenen auf die dort stehenden großen Steinplatten eingravierte.
»Mr. Nicholls!«, rief ich, als ich sah, dass der fragliche Herr gerade seine Unterkunft verließ. Er bog in die Gasse ein und kam mir entgegen. »Meine Familie und ich möchten Sie herzlich hier willkommen heißen, Sir. Ich hoffe, dass Sie sich gut einleben.«
»Das will ich tun«, antwortete er mit einer überraschten Verbeugung. »Vielen Dank, Miss Brontë. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Es ist nicht viel, Sir, nur ein Laib Brot, ein kleiner Kuchen und ein Glas Stachelbeermarmelade, aber meine Schwester und ich haben alles selbst zubereitet. Ich möchte hinzufügen, dass ich auch die Leinenserviette eigenhändig gesäumt habe. Da ich weiß, dass Sie der Meinung sind, Frauen seien am bestenin den Beschäftigungen, die Gott für sie vorgesehen hat – nämlich Nähen oder Betätigung in der Küche –, gehe ich davon aus, dass unser Geschenk Ihnen außerordentlich angemessen erscheinen wird.«
Zu meiner großen Befriedigung wurde er puterrot und verstummte.
»Ich muss jetzt weiter«, fügte ich hinzu. »Ich habe zu Hause sehr viel zu tun. Augenblicklich bin ich nämlich in die Lektüre von Macaulays
Balladen aus dem Alten Rom
und Chateaubriands
Études historiques
1 vertieft. Zudem habe ich nun meine Übersetzung von Homers
Ilias
aus dem Griechischen beinahe abgeschlossen. Wenn Sie mich also bitte entschuldigen würden.«
Ich sah Mr. Nicholls erst am Sonntag in der Kirche wieder, wo er seinen ersten Pflichten als Hilfspfarrer nachkam. Als er laut die Gebete las, schien es, als wüsste die Gemeinde die herzhaften keltischen Anklänge in seinem Gebaren und Tonfall sehr zu schätzen. Nach dem Gottesdienst nickte er jedoch nur knapp, verneigte sich feierlich vor allen Gemeindemitgliedern, die zu ihm kamen, und sprach kaum ein Wort.
Als ich mich darüber bei Emily beschwerte, nachdem wir zum Pfarrhaus zurückgekehrt waren, erwiderte diese nur: »Vielleicht ist Mr. Nicholls einfach schüchtern. Er teilt womöglich unsere Abneigung, mit Fremden Konversation zu machen; schließlich ist er ja erst kürzlich hier eingetroffen. Und er hat wirklich eine sehr angenehme Stimme.«
»Eine angenehme Stimme kann einem Menschen nur wenig nutzen«, antwortete ich, »wenn er zu reserviert ist, um zu sprechen, und wenn er dann spricht, überhebliche und engstirnige Meinungen vorbringt. Ich bin mir sicher, dass er auch bei näherer Bekanntschaft nicht gewinnen wird.«
Wenige Wochen nach Mr. Nicholls’ Ankunft in Haworth erhielt ich einen Brief von Anne, in dem sie uns ankündigte, sie und Branwell würden eine Woche früher als erwartet aus Thorp Green zu uns in die Sommerferien kommen. Anne nannte keinen Grund für diese plötzliche Änderung ihrer Pläne; aber da der Brief uns nur wenige Stunden vor dem Eintreffen ihres Zuges zugestellt wurde, mussten wir, Emily und ich, uns sofort auf den Weg machen, um sie im vier Meilen entfernten Keighley abzuholen.
Es war ein warmer, sonniger Juninachmittag mit strahlend blauem Himmel. Wir hatten unsere Schwester und unseren Bruder seit Weihnachten nicht gesehen und freuten uns beide sehr auf ihren bevorstehenden Besuch.
»Da kommt der Zug!«, rief Emily und erhob sich von der harten
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