Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
nicht einmal gesehen. Ich hätte nicht gedacht, dass es dir etwas ausmachen würde. Du hast doch immer gesagt, dass du niemals heiraten würdest.«
»Ja, aber aus freien Stücken! Ich habe zwei Heiratsanträge erhalten. Ich habe sie nicht angenommen. Der Ausdruck ›alte Jungfer‹, da denkt man an ein jämmerliches altes Mädchen, ungeliebt und von niemandem begehrt.«
»Ach, und wer ist sich
jetzt
zu fein?«, fuhr die verwitwete Tabby dazwischen und schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ich hätte nicht gedacht, dass zwei Anträge per Post was sind, mit dem man sich groß brüsten kann!«
»Es zeigt aber doch, dass ich meine Maßstäbe habe. Ich heirate nur, wenn die Zuneigung beiderseitig ist, und dann einen Mann, der nicht nur mich liebt und respektiert, sondern der auch Frauen im allgemeinen respektiert.« Ich sank, höchst verärgert, auf den Schaukelstuhl beim Kamin. »Die Männer zitieren immerzu die tüchtige Frau des Königs Salomon als Musterbeispiel dafür, wie ›unser Geschlecht‹ zu sein hat. Nun, die war aber Handwerkerin! Sie stellte feine Kleider und Gürtel aus Wolle und Flachs her und verkaufte sie! Sie war zudem Bäuerin und Verwalterin. Sie kaufte Äcker und pflanzte Weinberge an. 2 Aber wird uns Frauen heutzutage gestattet, auch nur annähernd so tüchtig wie sie zu sein?«
»Nein, das wird es nicht«, antwortete Emily.
»Uns ist keine Beschäftigung erlaubt, außer den Arbeiten im Haushalt und Näharbeiten, keine irdischen Vergnügen außer den wenig erbaulichen ›Besuchen in der Nachbarschaft‹ und keine Hoffnung, je im Leben etwas Besseres zu erreichen. Die Männer erwarten von uns, dass wir uns mit diesem langweiligenund wenig erfreulichen Schicksal zufriedengeben, ohne uns zu beklagen, tagein, tagaus, als hätten wir nicht die geringste Anlage für irgendetwas anderes. Ich frage dich: Könnten Männer selbst so leben? Würden sie dessen nicht sehr bald überdrüssig?«
»Die Männer haben keine Ahnung, welche Mühsal die Frauen in ihrem Leben ertragen müssen«, sagte Tabby mit einem traurigen Kopfschütteln.
»Und selbst wenn«, meinte Emily, »dann würden sie trotzdem nichts daran ändern.«
Als ich endlich mit einem erleichterten Seufzer die Haustür hinter Mr. Nicholls schloss, ging ich raschen Schrittes in Papas Studierzimmer und sagte: »Ich hoffe, dass wir diesen Herrn heute zum letzten Mal gesehen haben.«
»Im Gegenteil«, erwiderte Papa. »Ich habe ihn eingestellt.«
»Du hast ihn eingestellt? Papa! Das kannst du nicht ernst meinen!«
»Er ist der beste Kandidat, mit dem ich seit Jahren gesprochen habe. Er erinnert mich an William Weightman.«
»Wie kannst du das sagen? Er hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit William Weightman!« Mr. Weightman, Papas ersten Hilfspfarrer, hatte jedermann in der Gemeinde geliebt, besonders meine Schwester Anne. Leider hatte er sich vor drei Jahren bei Krankenbesuchen mit Cholera angesteckt und war gestorben. »Mr. Weightman sah gut aus und war ausgesprochen charmant und leutselig. Er hatte einen wunderbaren Humor.«
»Mr. Nicholls besitzt auch einen wunderbaren Humor.«
»Davon habe ich aber nichts bemerkt – es sei denn, seine Witze gehen auf Kosten der Frauen. Er ist engstirnig, ungehobelt und arrogant, Papa, und viel zu reserviert.«
»Reserviert? Was, wie kommst du darauf? Der Mann hat mir ein Loch in den Bauch geredet. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal ein so angenehmes und anregendes Gespräch mit einem Mann geführt hätte.«
»Mit mir hat er kaum drei Sätze gewechselt.«
»Vielleicht fühlt er sich nicht wohl, wenn er mit Frauen spricht, die er noch nicht lange kennt.«
»Wenn das stimmt, wie will er dann mit der Gemeinde zurechtkommen?«
»Ich denke, er wird gut mit ihr zurechtkommen. Er wurde uns sehr empfohlen, wie du weißt, und ich verstehe, warum. Er hat letztes Jahr seinen Studienabschluss am Trinity College gemacht. Er ist ein fähiger Mann und hat einen klugen Kopf auf den Schultern. Wir haben vieles gemeinsam, Charlotte. Kannst du dir das vorstellen? Er ist in der Grafschaft Antrim geboren, im Norden Irlands, nur fünfundvierzig Meilen von dem Ort entfernt, an dem ich aufgewachsen bin. Wir stammen beide aus Familien mit zehn Kindern, unsere Väter waren beide arme Bauern, und uns beide hat jeweils der Ortspfarrer dabei unterstützt, auf die Universität zu gehen.«
»Diese Ähnlichkeiten sind schön und gut, Papa, aber machen sie ihn auch zu einem guten Hilfspfarrer? Er ist
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