Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
niedergeschlagen«, erwiderte Emily.
»Ich sorge mich so um ihn«, sagte Anne. »Was soll aus ihm – aus uns – werden, wenn er erblindet? Wird er seine Pfarrstelle verlieren, was meint ihr?«
»Papa wird seine Pfarrstelle
nich t
verlieren«, beharrte Branwell. »Er genießt in der Gemeinde ein sehr hohes Ansehen – und hast du, Charlotte, in deinem letzten Brief nicht erwähnt, dass er einen neuen Hilfspfarrer eingestellt hat?«
»Ja, einen gewissen Mr. Nicholls. Ich finde ihn außerordentlich unangenehm.«
»Warum?«
»Er ist sehr reserviert und zurückhaltend.«
»Aber ist er tüchtig? Erledigt er seine Arbeit ordentlich?«
»Es ist noch zu früh, um darüber zu urteilen. Er hat erst vor einigen Wochen angefangen.«
»Dieser Mr. Nicholls muss doch ein guter Mann sein, wenn Papa ihn ausgewählt hat«, meinte Anne.
»Papa hat auch James Smith ausgewählt«, erwiderte ich, »und der war ungehobelt, herablassend und geldgierig.«
»
Den
Fehler würde Papa nicht noch einmal machen«, sagte Branwell. »Wenn dieser Mr. Nicholls Vater nur die Hälfte seiner Pflichten abnehmen kann, dann ist er sein Gewicht in Gold wert.«
Wir hatten inzwischen die Außenbezirke der Stadt erreicht und machten uns an den langen Aufstieg. Er führte durch das unwegsame Gelände die welligen Hügel hinauf und an den Fabriken vorüber, die zwischen Reihen grauer Steinhäuser entlang der Straße entstanden waren. »Wie lange bleibst du zu Hause, Branwell?«, fragte ich. »Einen guten Monat, will ich hoffen?«
»Ich muss nächste Woche zurückreisen.«
»Oh«, meinte Emily enttäuscht. »Warum nur ein so kurzer Aufenthalt?«
»Ich werde in Thorp Green gebraucht – aber im Juli komme ich wieder nach Hause. Ich werden den Rest meiner Ferien nehmen, wenn die Robinsons auch ihren Urlaub antreten und nach Scarborough reisen.«
»Was hält dich denn so beschäftigt, dass du dir nicht richtig freinehmen kannst?«
Ich bemerkte, wie Anne Branwell von der Seite einen stummen Blick zuwarf; er wurde seltsamerweise rot und antwortete rasch: »Nun, neben dem Unterricht, den ich dem jungen Master Robinson erteile, gebe ich inzwischen auch allen Frauen der Familie Zeichenunterricht.«
»Zeichenunterricht?«, fragte Emily. »Wie ist das denn gekommen?«
»Recht unerwartet. Als ich eines Tages der Dame des Hausesgegenüber erwähnte, dass ich in meinen Jugendtagen Zeichnen und Malen studiert und ein Jahr in Bradford mit dem Versuch verbracht habe, mich als Porträtmaler zu etablieren, bestand sie darauf, ich solle ihr Porträt malen. Mrs. Robinson war so entzückt von dem Ergebnis, dass sie mich bat, ihr – und ihren drei Töchtern – das Malen beizubringen.«
»Was für ein wunderbare Möglichkeit, deine Talente einzusetzen«, meinte Emily.
»Wie sich herausstellte«, fuhr Branwell voller Begeisterung fort, »ist Mrs. Robinson selbst künstlerisch veranlagt. Weil sie so erpicht darauf ist, mit den angefangenen Arbeiten fortzufahren, ehe sie in Ferien fährt, hat sie mich gebeten, noch innerhalb der nächsten Woche zurückzukehren.«
Liebes Tagebuch, ich muss gestehen, dass es mir einen winzigen Stich versetzte, als mir Branwell seine neuesten künstlerischen Unternehmungen so umriss. Vergib mir, dass ich derlei Gefühle hege. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass sie alles andere als freundlich sind; ich werde mir alle Mühe geben, sie zu überwinden. Aber wie viele lange Jahre schon hege ich genau wie mein Bruder den Ehrgeiz, mich künstlerisch zu betätigen? Meine Schwestern und ich, wir haben in unserer Jugend alle beim gleichen Zeichenlehrer Unterricht gehabt wie Branwell. Für mich wurde daraus eine Beschäftigung, die ich von Herzen liebte. Ich habe damals unzählige Stunden über mein Zeichenpapier und meinen Karton gebeugt verbracht, mit Kreiden, Bleistiften, Buntstiften und Farbnäpfen hantiert und Bilder aus meiner Phantasie geschaffen oder sorgfältig Drucke und Stiche berühmter Werke kopiert, die ich in Büchern und Almanachen fand. Als ich achtzehn Jahre alt war, wurden sogar zwei meiner Bleistiftzeichnungen für eine namhafte Kunstausstellung in Leeds ausgewählt. Aber weil Branwell ein Jungewar, entschied Papa, dass er derjenige sein sollte, der Malerei studierte. Ich missgönnte meinem Bruder das nicht. Aber, oh, ich bekam nun gar keinen Unterricht mehr, und irgendwann hörte ich dann ganz auf zu malen und zu zeichnen. 2
»Hast du wieder etwas Neues geschrieben, Charlotte?«
Die Stimme meines Bruders riss mich jäh
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