Die Geheimen Tagebücher Der Charlotte Brontë
geschaffen, die sie Gondal nannten – eine finstere, dramatische und leidenschaftliche nordische Welt, die von Frauen regiert wurde – und sie hatten die Abenteuer ihrer geliebten Gestalten in Versen undin Prosa aufgezeichnet. Obwohl es bereits Jahre her war, dass meine Schwestern die Früchte ihrer Bemühungen mit uns geteilt hatten, wusste ich doch, dass sie auch heute noch großes Vergnügen daran fanden, in ihren privaten, geflüsterten Gesprächen Szenen aus Gondal zu spielen.
»Ich nehme an, das Schreiben liegt uns einfach im Blut«, sagte ich, »und ich werde es stets lieben, aber ich habe doch das Gefühl, etwas Nützlicheres und Lohnenderes mit meiner Zeit anfangen zu müssen. Eines Tages werden wir alle vielleicht unseren Lebensunterhalt aus eigener Kraft bestreiten müssen, und Schreiben sichert einem nun einmal kein Einkommen.«
»Aber das kann es sehr wohl«, sagte Branwell plötzlich mit einem geheimnisvollen Lächeln, während er die Kappe absetzte und den Kopf nach hinten warf, sodass die heiße Sonne ihm ins Gesicht scheinen konnte.
»Was hat dieses Lächeln zu bedeuten?«, fragte Emily. »Hast du etwas verkauft, Branwell?«
»Ja. Die
Yorkshire Gazette
hat gerade vier meiner Sonette abgedruckt.«
»Vier Sonette!«, rief ich überrascht und begeistert. »Wann war das?«
»Im letzten Monat. Sie haben
Blackcom
und
The Shepherd’s Chief Mourner
gedruckt, die ich vor Jahren geschrieben habe, und auch noch zwei neue, die ich unter dem Titel
The Emigrant
zusammengefasst habe.« Branwell begann unverzüglich, seine neuen Verse über die Felder und in den Himmel hinein zu deklamieren. Während ich seiner klaren, starken Stimme lauschte, stieg Freude und Zuneigung in mir auf. Branwells lebhafter Sprechstil war eine Begabung, die er bereits in Kindertagen gezeigt hatte; wenn er es sprach, klang selbst das gewöhnlichste Gedicht wie ein Meisterwerk. Nach dem Abschlussseines Vortrags klatschen meine Schwestern und ich ihm Beifall, und Branwell bedankte sich mit einer Verbeugung.
Wir hatten das untere Ende der einzigen, steilen, schmalen und gewundenen Straße von Haworth erreicht. Mit erneutem Elan stapften wir bergauf. Unsere Füße schallten laut auf den Steinplatten, als wir an den eng gedrängten, mit Schiefer gedeckten grauen Steinhäusern und Geschäften zu beiden Seiten vorübergingen und dabei geschickt zwei Pferdefuhrwerken auswichen, die den größten Teil der Straße für sich beanspruchten. Schon bald hatten wir den Friedhof von Haworth erreicht, der auf der Anhöhe vor der Kirche lag. Es war Waschtag: Hausfrauen und Wäscherinnen hatten sich auf dem Kirchhof versammelt und schwatzten vergnügt, während sie nasse Leintücher und andere Wäsche zum Trocknen über die Grabsteine breiteten. Da die weitaus meisten Grabsteine große Steinplatten waren, die horizontal auf niedrigen Sockeln lagen, boten sie einen sehr vorteilhaften Trockenplatz.
»Das ist außerordentlich respektlos«, dröhnte eine tiefe irische Stimme, als wir linker Hand in die Church Lane einbogen. Ich sah, wie Mr. Nicholls aus dem Haus des Küsters trat, begleitet von Mr. Grant, dem Hilfspfarrer von Oxenhope, einem uns wohlbekannten jungen Mann, der Papa im vergangenen Jahr bei so mancher Gelegenheit in der Gemeinde unter die Arme gegriffen hatte. »Ein Friedhof ist ein geheiligter Ort«, fuhr Mr. Nicholls fort. »Die Grabsteine ganz in feuchte Laken, Hemden und Unterröcke eingehüllt zu sehen, das ist der reinste Hohn.«
»Ich widerspreche Ihnen nicht«, erwiderte Mr. Grant, ein dünner Mann mit rosigem Teint und einer hohen, näselnden Stimme, »aber ein Brauch ist eben ein Brauch, und Sie solltensich nicht mit allen Frauen von Haworth anlegen, wenn ich Ihnen das raten darf.«
Als sie uns erblickten, unterbrachen die jungen Leviten ihr Gespräch. Mr. Nicholls und ich hatten in den drei Wochen, seit ich ihm seinen Willkommenskorb gebracht hatte, kein Wort miteinander gesprochen, und er erstarrte, als er meiner gewahr wurde. Dann gingen die beiden Männer den Weg herunter in unsere Richtung. Mr. Nicholls blickte neugierig auf Anne und Branwell, während er und Mr. Grant genau gleichzeitig ihre Hüte zogen und guten Tag sagten.
»Guten Tag«, erwiderte ich. »Mr. Nicholls, darf ich Ihnen meinen Bruder Branwell und meine Schwester Miss Anne Brontë vorstellen? Branwell, Anne, das ist Reverend Arthur Bell Nicholls, der neue Hilfspfarrer von Haworth.«
Mr. Nicholls schüttelte Branwell die Hand und verneigte sich förmlich
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