Die Geheimnisse der Therapeuten
dass sie nicht verstanden, was vor sich ging. Ich habe das alles noch einmal vor mir gesehen, als ich die erschütternde Erzählung von Eric Emmanuel Schmitt Oscar und die Dame in Rosa gelesen habe, bei der es darum geht, diese letzten Wochen mit Empathie und Sanftmut friedlich zu gestalten. Da ich den Anblick dieses Leids nicht mehr ertrug, gab ich die Kinderheilkunde auf.
Den Tod hinauszögern: ein immenser Fortschritt
Als ich mich von 1955 bis 1960 der Nierenheilkunde zuwandte, steckte diese noch in den Kinderschuhen. Wir hatten damals nichts oder so gut wie nichts in der Hand. Im Fall einer Urämie, also des Stadiums, in dem die Nieren krankheitsbedingt versagen, trat der Tod binnen weniger Tagen oder Wochen nach einem sehr schmerzhaften Todeskampf ein, den wir lediglich lindern konnten. Aber in den letzten fünfzig Jahren gab es rasche Fortschritte: Durch die Erkenntnisse der Physiologie war vorübergehende Abhilfe möglich. Besonders mithilfe der Dialyse konnte man die Nierenfunktion ersetzen, sodass sich der sichere Tod abwenden lieÃ. Bald danach kam die Nierentransplantation hinzu. Aber die ersten Jahre waren schwierig, denn nicht alle Kranken konnten vom Fortschritt profitieren. Man musste wählen, wer überleben â oder sterben sollte. Glücklicherweise wurden die Methoden rasch perfektioniert, sodass alle Betroffenen behandelt werden und sich einer längeren Lebenserwartung erfreuen konnten. In Frankreich wird auf diese Weise 60 000 Patienten pro Jahr das Leben gerettet.
Eines Tages wird es schwieriger sein zu leben als zu sterben.
In etwas mehr als einem halben Jahrhundert hat sich ein kompletter Wandel in der Medizin vollzogen: Auf den meisten medizinischen Gebieten hat sich alles geändert, sodass der Tod hinausgeschoben wird.
Aber all diese Beispiele lassen mich auch denken, dass es eines Tages aufgrund von körperlichen Schmerzen oder Lebensmüdigkeit schwieriger sein wird zu leben als zu sterben. Einer meiner Lehrer wurde hundert Jahre alt. Ich hatte ihm eine kleine liebevolle Glückwunschkarte geschrieben. Am Ende seiner Antwort schrieb er: »Hundert Jahre sind viel!«
Der Tod in der Geschichte der Menschen
Die Angst vor dem Tod ist dem Menschen angeboren. Sie entstand, als der Mensch ein Bewusstsein von sich und den anderen in seiner Umgebung entwickelte, also von jenen, die zur Gruppe gehörten, denn der Mensch ist ein soziales Wesen. In der Evolution der Arten ist das Auftauchen des Bewusstseins zweifellos in grauer Vorzeit angesiedelt. Es sind die »Uremotionen«, die Derek Denton beschrieben hat. 33 Sie haben zum Erwachen der Empfindungen geführt. Hunger, Durst und die Suche nach einem Sexualpartner waren bereits bewusste Zustände von dem Augenblick an, in dem sie zu gezieltem Verhalten führten.
33 Derek Denton: Les Ãmotions primordiales et lâÃveil de la conscience , Flammarion, Paris 2005.
Mit dem Auftreten der Hominiden kam es im Laufe der Evolution zu einer allmählichen Zunahme des Hirnvolumens, das sich von 400 bis 500 Kubikzentimetern beim Australopithekus auf 1 400 Kubikzentimeter beim Homo sapiens vergröÃerte. Der Mensch verstand nun, dass ein anderer ein anderes Ich war und dass alle sterblich waren. Das weckte sogleich die Angst vor dem Tod: die Beängstigung des Menschen angesichts dieses schonungslosen und unverständlichen Phänomens, das ihn völlig aus der Fassung brachte. So entstand die Hoffnung, das Leben würde in einer anderen Form und einer anderen Welt weitergehen â also die instinktive Ablehnung dieser Situation.
Wie Religion und Philosophie versuchen, den Tod zu bezähmen
Um sich zu schützen, schuf der Mensch Mythen und stellte sich vor, dass das Leben in einem Jenseits nach dem Tod weitergehen würde. Um den Verstorbenen in dieses andere Leben hinüberzugeleiten, tauchten bei den ersten Menschen schon sehr früh Bestattungsrituale auf, auf deren Spuren man insbesondere im Mittleren Osten in prähistorischen Stätten gestoÃen ist, die mehr als 100 000 Jahre alt sind. Der Tote wurde in einer Grabstätte beigesetzt, und man gab ihm unerlässliche Gegenstände mit, die ihn in seine andere Existenz, ins Jenseits, begleiten sollten. Es gibt unzählige Entdeckungen von Grabmälern auch in ganz Europa (50 000 bis 30 000 v. Chr.). Diese Entwicklung setzte sich fort mit dem Auftauchen der ersten Kulturen, der Entwicklung der Sprache und schlieÃlich
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