Die Geheimnisse Der Tinkerfarm
Polverschiebungen gegeben haben …« Octavio unterbrach sich, um einen Block und einen Filzstift aus der Tasche zu holen und etwas zu kritzeln. Tyler hielt unterstützend seine Taschenlampe darauf, wurde aber aus den eigenartigen Symbolen des alten Mannes nicht schlau. »Siehst du? Polverschiebungen«, sagte Octavio mit Genugtuung und klappte seinen Block wieder zu.
Irgendwo hinter ihnen stöhnte Steve Carrillo nach Wasser.
»Ich hatte eigentlich an was anderes gedacht«, sagte Tyler. »Ich meinte die zwei Stellen, an denen man
hier
in die Verwerfungsspalte gelangt. Es gibt einmal die Spaltenöffnung selbst, versteht sich, außerdem aber noch diesen Waschkommodenspiegel in der Bibliothek.« Er fragte sich, wie viel er ungestraft verraten durfte. »Vielleicht ist Grace ja stattdessen durch den gegangen.«
Octavio sah ihn verwundert an. »Wodurch?«
»In der Bibliothek – der großen Bibliothek auf der Farm. Da gibt es ein kleines Zimmer mit einem Bett drin, und einer Waschkommode.«
|280| Der alte Mann nickte. »Das Ruhezimmer, wie wir es nennen. Ich lege mich dort manchmal zu einem Nickerchen hin, wenn ich mitten in irgendwelchen Recherchen bin. Aber da drin gibt es keine Waschkommode und keinen Spiegel, nur ein Tischchen mit einer Schüssel drauf.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Nein, kein Spiegel. Gar kein Spiegel.« Er betrachtete Tyler skeptisch. »Wie kommst du auf den Gedanken, im Ruhezimmer der Bibliothek könnte ein Zugang zur Spalte sein? Nichts für ungut, junger Mann, aber ich bin mir sicher, dass ich das gemerkt hätte.«
»Könnt ihr bitte langsamer machen?«, rief Steve aus einiger Entfernung hinter ihnen.
Tyler konnte sich nicht erklären, wie es kam, dass Octavio nichts von dem Kommodenspiegel wusste, doch als er gerade weiterfragen wollte, blieb der alte Mann in der Mitte des niedrigen Stollens abrupt stehen und hob eine knochige Hand.
»Ah, da! Spürst du es?«
Tyler fühlte ein eigenartiges Kribbeln auf der Haut, ein fast unmerkliches Streichen frischer Luft im Gesicht. »Ich glaube schon.«
»Was spüren?«, fragte der hinterhertapsende Steve. »Können wir mal eine Pause einlegen? Sind wir … sind wir bald an der Verwerfungsspalte?«
»Es fühlt sich so an«, sagte Tyler.
»Freut mich zu hören, weil ich nämlich nicht das Geringste fühle«, sagte Steve, während er nach seiner Feldflasche griff. »Außer Schmerzen in den Füßen. Und Hunger.«
Gideon klopfte Tyler abermals auf die Schulter. »Allerdings, so ist es. Du bist ein waschechter Tinker, mein Junge, gar kein Zweifel!«
»Ich für meinen Teil bin ein waschechter Normalo«, sagte Steve und wischte sich den Mund. »Und es freut mich sehr, |281| dass ihr euch bei eurem Tinker-Familienfest so bombig amüsiert, aber ich würde gern hier
raus.«
»Und jetzt wird mir auch klar, dass du der Enkel oder Urenkel von Ignacio sein musst«, sagte Octavio mit einem stillen Schmunzeln, »meinem Nachbarn. Du hast seine Augen. Seinen Mund auch. Ein freundlicher Zeitgenosse, wenn auch ein wenig zu gesprächig, wenn andere Leute sich zu konzentrieren versuchen.« Er streckte die Hand aus. »Sie ist jetzt ganz nahe. Folgt mir, Jungs!«
Er schritt so energisch aus wie ein jüngerer Mann, als ob ihm die Nähe der Verwerfungsspalte Kraft verliehe. Sie gelangten in eine größere natürliche Höhle, wo der Gang, dem sie gefolgt waren, auf eine Kreuzung stieß, doch anstatt sich nach rechts oder links zu wenden, deutete Octavio Tinker geradeaus auf die schroffe Steinwand. »Fühlst du es?«
Tyler nickte. Die neue Empfindung machte ihn sogar ein bisschen schwindelig, so als stünde er schwankend am Rand eines sehr hohen Steilfelsens, unter ihm nichts als Luft. »Ich fühle … etwas.«
»Ähm, ich will ja nicht stören«, meldete sich Steve, »aber was redet ihr da eigentlich? Das ist eine Felswand und weiter nichts.«
»Hier.« Octavio deutete auf eine Stelle. »Fass mal an.«
Steve trat ein paar Schritte vor und streckte die Hand aus. Sie glitt durch den Stein, als wäre er gar nicht vorhanden. »Alter! Ist ja irre!« Wieder und wieder schob er seine Hand hinein und zog sie wieder heraus. »Ist das unheimlich!«
»In der Tat.« Octavio Tinker lachte und klang dabei viel jünger, als er tatsächlich war, und Tyler wünschte, er hätte den alten Mann im richtigen Leben kennengelernt statt in dieser zeitlosen Unterwelt. Was für ein Unterschied zu Gideon mit seinen Launen und Verdächten. »Aber ich fürchte, es ist jetzt |282| an
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