Die Geheimnisse der Toten
was man früher einen Schieber nannte.»
An Mr. Giacomo wirkte vieles wie von früher. Er hatte kurzgeschorene weiße Stoppeln auf dem Kopf, mit einem spitz zulaufenden Haaransatz, der wie ein Schiffsbug in die Stirn ragte. Sein Gesicht war gebräunt und faltig, und über den Augen bauschten sich struppige Brauen. Er trug einen braunen Tweedanzug ohne Krawatte, das weiße Hemd war bis an die Grenzen der Schicklichkeit aufgeknöpft. Er stand auf, als sie sich näherten, und bat sie, an seinem Tisch Platz zu nehmen. Aufs Händeschütteln verzichtete er, winkte aber einen Kellner herbei und orderte zwei Sidecars.
«Hatten Sie eine gute Reise?», erkundigte er sich. Sein Akzent war nicht einzuordnen; er mochte aus irgendeinem der sechs Adria-Anrainer stammen. Ungeniert starrte er Abby ins Gesicht, was ihr die Röte in die Wangen trieb wegen der Blessuren, die sie sich im Wald zugezogen hatte, zusätzlich zu der noch nicht verheilten Platzwunde, die sie Dragović verdankte. Sie sah aus wie ein abschreckendes Beispiel häuslicher Gewalt.
«Wir hatten unterwegs ein paar Probleme.»
Er nickte, als verstünde sich das von selbst. «Sind Sie zum ersten Mal in Belgrad?»
Seine Frage war ausschließlich an Abby gerichtet.
«Nein, ich war schon einmal hier.»
«Haben Sie schon die Burg besichtigt? Das Ethnographische Museum?»
«Mr. Giacomo arbeitet viel in Museen», versuchte Michael zu scherzen, doch Giacomo lächelte nicht.
«Mr. Lascaris, Sie haben große Schwierigkeiten auf sich genommen, um ein Treffen mit mir zu vereinbaren. Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, habe einem Gespräch mit Ihnen aber trotzdem zugestimmt, obwohl unsere geschäftlichen Angelegenheiten häufig … ich möchte sagen, antagonistischer Natur sind.»
Er breitete seine Hände auf dem Tisch aus und beugte sich nach vorn. «Was wollen Sie von mir?»
Michael steckte sich eine Zigarette an und stieß einen Schwall Rauch aus, der vor den Neonleuchten an der Wand rötlich glühte. Die stroboskopischen Blitze über der Tanzfläche wirkten am Rand der Wolke wie fernes Wetterleuchten.
«Ich will wissen, worauf Dragović aus ist.»
Giacomo zog die Brauen zusammen. «Den Namen spricht man lieber nicht laut aus, vor allem nicht in dieser Stadt.» Er deutete auf sein Ohr. «Es ist immer jemand in der Nähe, der ein feineres Gehör hat als ich.»
«Dragović krempelt seit zwei Monaten ganz Europa um», entgegnete Michael, ohne sich von Giacomos Worten einschüchtern zu lassen. Die Musik wurde schneller, die Bässe polterten wie hastige Schritte.
«Ein Mann wie er ist immer auf etwas aus. Waffen, Mädchen, Drogen … vielleicht sogar auf einen Zollinspektor der Europäischen Union.» Giacomo holte eine eigene Zigarettenpackung aus der Tasche und tippte damit auf den Tisch. «Womöglich wissen Sie besser Bescheid als ich.»
«Er sucht nach einem historischen Artefakt. Wahrscheinlich aus römischer Zeit. Und so, wie er sich dafür ins Zeug legt, scheint er zu wissen, worum es sich dabei handelt. Ich dachte, Sie hätten vielleicht auch davon erfahren.»
Giacomo dachte nach. «Die besagte Person tauscht sich nur selten mit mir aus.»
«Ich kann mir kaum vorstellen, dass Ihnen die Suche nach einem römischen Artefakt entgangen sein könnte.»
«Für wen halten Sie mich?» Er hob seinen Drink und musterte die Spiegelung im Glas. «Wie dem auch sei, was macht Sie so sicher, dass er ausgerechnet darauf aus ist?»
Die Asche an Michaels Zigarette war so lang geworden, dass sie abzubrechen drohte. «Jeder weiß, dass er verrückt nach solchen Sachen ist.»
«Wirklich?»
Die Frage schwebte in der Luft und mischte sich mit Rauch und Lärm. Giacomo starrte Michael an, der sich Abby halb zuwandte und die Augenbrauen hob. Was habe ich dir gesagt?
Giacomo stand auf. «Entschuldigen Sie mich.» Er griff sich in den Schritt. «Das Problem alter Männer. Wir werden unser Gespräch gleich fortsetzen.»
Er zwängte sich aus der Nische und ging mit schlurfenden Schritten am Rand der Tanzfläche vorbei zu den Toiletten. In seinem braunen Anzug und vornübergebeugt sah er wie ein trauriger Greis aus, der sich verirrt hatte.
«Wie bist du an ihn herangekommen?», fragte Abby.
Michael leerte sein Glas. «Ich pflege ein paar Kontakte zur Kunstwelt. Gestohlene Kunstwerke und Antiquitäten zu schmuggeln ist sehr profitabel. Mr. Giacomo zählt zu den Größten seines Fachs – oder zu den Schlimmsten, ganz, wie man’s nimmt.»
«Bist du sicher, dass er uns nicht an
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