Die Geheimnisse der Toten
Anstieg sehr mühselig. Als wir Symmachus’ Haus erreichen, schnaufen wir wie die Karrenpferde.
Die Eingangstür ist verriegelt. Wir ziehen an der Glocke, die draußen hängt, doch es kommt niemand. Der ganze Besitz des Verurteilten ist beschlagnahmt worden, so auch die Sklaven, die weiterverkauft werden sollen, bis auf einen Freigelassenen, der sich um die Abreise kümmern sollte.
«Vielleicht hat er einen anderen Weg eingeschlagen und ist inzwischen am Hafen», mutmaße ich.
«Es gibt noch eine Seitentür.» Porfyrius geht bereits um das Haus herum. Ich will zurückbleiben, folge aber aus Neugier und biege um die Ecke in eine schmale Gasse zwischen einer fensterlosen Wand und dem Haus des Nachbarn. Auf halber Strecke ist eine Holztür in die Ziegelmauer eingelassen.
Porfyrius öffnet die Tür. Wir betreten einen Gewölbekeller, in dem es nach Sägemehl riecht. Der Boden ist mit Holzsplittern und Mulch bedeckt. Sogar das Brennholz wurde konfisziert. In den angrenzenden Räumen setzt sich bereits Staub ab.
Hinter der nächsten Tür gelangen wir in eine weitere ausgeräumte Kammer, und dann befinden wir uns plötzlich in der hellen Säulenhalle vor dem Garten.
Die Fische stehen reglos in ihrem Tümpel. Die blinden Philosophen blicken von ihren Sockeln herab. Und in der Mitte des Gartens liegt Aurelius Symmachus ausgestreckt am Beckenrand, den Kopf zur Seite gedreht.
Ein Blick genügt, um zu wissen, dass er nirgendwo mehr hinreisen wird.
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29
Novi Pazar, Serbien – Gegenwart
Novi Pazar bedeutet «Neuer Bazar». Dieser Basar, der natürlich einmal neu gewesen sein muss, ist inzwischen stark heruntergekommen. Die Stadt selbst gleicht einer Miniatur des gesamten Balkans: Die südliche Hälfte besteht aus Minaretten und engverwinkelten osmanischen Gassen, die nördliche aus monolithischen Betonbauten. Beide Teile trennt ein kleiner Fluss. Sogar die Flüchtlinge, die die Straßen bevölkern, gruppieren sich symmetrisch: Sie bestehen zur Hälfte aus Muslimen, die die Serben aus Bosnien vertrieben haben, und aus Serben, die von den Muslimen aus dem Kosovo vertrieben wurden.
Abby hatte sich in einem Billigladen neue Sachen gekauft und in der Toilette des Busbahnhofs umgezogen. Michael hatte derweil am Kiosk zwei Fahrscheine für den Bus nach Belgrad gelöst, eine Fahrt von rund fünf Stunden. Sie saßen nun auf der hintersten Bank des Busses und ließen die Landschaft an sich vorbeiziehen: Flusstäler und karge Berghänge, grün und braun gefleckt, vereinzelte Obstwiesen und Steinbrüche. Eine triste Gegend.
Michael holte eine Kamera aus seiner Tasche und schaltete sie ein. Obwohl der Bus fast leer war, wölbte er die Hand über das Display, um es abzuschotten, und schaute sich die Bilder von der Grabkammer an.
«Hier, der Deckel des Sarkophags.» Er vergrößerte einen Ausschnitt per Zoomfunktion. «Siehst du die Inschrift?»
Trotz ihres Alters waren die tief eingemeißelten Lettern deutlich zu erkennen. «C VAL MAX», las Abby.
«Gaius Valerius Maximus», erklärte Michael. Sie schaute ihn an.
«Ich wusste gar nicht, dass du Latein beherrschst.»
«War schließlich auf der Grammar School. Bevor sie privatisiert wurde.» Er tippte auf das Display. «Nach meinem ersten Besuch in der Höhle habe ich ein bisschen recherchiert. Über diesen Valerius liegen Aufzeichnungen vor. Im Jahr 314 war er Konsul, und in manchen Dokumenten wird er geführt als Prätorianerpräfekt unter Konstantin dem Großen, also als eine Art Stabschef – oder consigliere , wenn man die Nomenklatura aus Der Pate bemüht. Jedenfalls war er sehr einflussreich.»
«Bis ihm schließlich ein Schwert durchs Herz gestoßen wurde.»
Michael rief die nächsten Fotos auf – verblichene Fresken, die von den Wänden bröckelten. Er versuchte, eine Inschrift zu entziffern, doch je weiter er sie heranzoomte, desto gröber verpixelte sich der Ausschnitt. Frustriert legte er die Kamera aus der Hand. Abby nahm sie an sich.
«Findest du das nicht auch seltsam?» Sie hatte das Foto wieder zur Vollansicht gebracht und betrachtete die Malereien. «Nirgends sind Symbole christlicher Ikonographie zu sehen. Kein einziges Kreuz oder Christusmonogramm, nichts, was wie die Darstellung einer biblischen Geschichte aussieht.»
«Nach dem, was ich gelesen habe, ging es während der Zeit Konstantins in religiöser Hinsicht drunter und drüber. Ist ja auch klar, dass nicht alle Heiden vom einen auf den anderen Tag beschlossen, sich zum
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