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Die Geheimnisse der Toten

Die Geheimnisse der Toten

Titel: Die Geheimnisse der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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sich?»
    Stellte er sie auf die Probe? Wollte er sie in eine Falle locken? Was beweist das? Ich kann mich kaum an meinen eigenen Namen erinnern. Ihr Blick huschte durch das Zimmer, auf den Monitor, der wie ein altes Funkgerät aussah, den Infusionsschlauch, der in ihrer Armbeuge endete, auf die abblätternde Farbe, das Kruzifix über der Tür …
    … und plötzlich war ihr, als spränge ein Funke von dem Kruzifix auf die Kette über, ein Lichtblitz, der auf schmerzliche Weise eine Lücke in ihrem Gedächtnis schloss.
    «Die Kette ist von Michael. Er sagte, der Anhänger sei ein altes christliches Symbol.»
    Sie wollte danach greifen und glaubte, über die Berührung mit dem alten Metall einer Erinnerung an Michael habhaft werden zu können, doch die Verbände und das Gipskorsett hinderten sie daran.
    Norris steckte die Kette in die Hülle zurück. Abby sah sich der letzten Verbindung zu Michael beraubt. Werde ich damit bis an mein Ende leben müssen? Mit der unerfüllten Sehnsucht, zurückzugewinnen, was verloren ist?
    «Die Polizei fand die Kette im Pool und hielt sie für einen Hinweis auf den Mann, der auf Sie geschossen hat.»
    Er klappte den Aktenordner zu und stand auf. «Das wär’s. Es sei denn, Sie haben mir noch etwas zu sagen.» Er ging zur Tür.
    «Augenblick!», rief Abby ihm nach. Sie spürte, wie sie wieder in Panik zu geraten drohte. «Was geschieht mit mir?»
    Norris blieb kurz auf der Schwelle stehen.
    «Sie fahren nach Hause.»

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    4
    Konstantinopel – April 337
    Jedes Mal, wenn ich in dieser Stadt eine Tür öffne, ist mir, als würde ich in einem großen Herrenhaus eine vergessene Vorratskammer betreten. Alles ist von Staub bedeckt. Jeder Schritt hinterlässt einen Abdruck, was man auch anfasst, hinterlässt Spuren. Man könnte meinen, die Stadt sei schon vor Jahrhunderten aufgegeben worden. Aber es ist nicht der geheiligte Staub des Altertums, der alles bedeckt, sondern der Staub der Handwerker, der Staub des Entstehens. Er hängt als Glocke über der Stadt. Auf meinem Weg in die Bibliothek schmecke ich ihn auf der Zunge: die Schärfe geschnittener Steine, die Süße gesägten Holzes oder das Ätzende von Kalk, den man unter Mörtel mischt. Ich werde wohl bald ein Feinschmecker sein, der die feinen Nuancen Athener Marmors, ägyptischen Porphyrs oder römischen Granits als Staub in der Luft zu unterscheiden versteht.
    Meine Erinnerungen aber setzen keinen Staub an. Je länger ich lebe, desto klarer sind sie mir vor Augen, eingemeißelt ins Gedächtnis und so gründlich poliert, dass sie glänzen. Unwichtige Details sind ausgewetzt und geglättet. All das ist meine Erzählung.

    Ich kenne die Bibliothek der Akademie, war aber noch nie in ihrem Inneren. Zu beiden Seiten der Pforte kauern schwarze Sphinxe, die dem Betrachter Rätsel aufgeben. Sie sind wohl dafür verantwortlich, dass man von der Ägyptischen Bibliothek spricht. Die Skulpturen sind alt. Nicht einmal Konstantin kann seine neue Stadt aus dem Nichts entstehen lassen, zumal er es damit eilig hat. Er plündert das Reich, um seine Stadt mit antiken Schätzen zu schmücken: mit Statuen, Säulen, Steinen und selbst Dachziegeln.
    Und mit Büchern. Als ich durch das Tor gehe, an den Menschen vorbei, die sich auf den Stufen drängen, fällt mein Blick auf Hunderte, wenn nicht Tausende von Manuskriptrollen, aufgestapelt in Regalen wie Knochen in einem Beinhaus. Ein Wimpernschlag später weht mir ihr Geruch entgegen: der muffige Mief von altem Pergament und ein Gestank, der an faulendes Gras erinnert. Er geht vom Papyrus aus und wird durch die Hitze noch gesteigert, so sehr, dass ich unwillkürlich würgen muss.
    Der riesige Raum mit seinen Galerien ist rund und hat ein hohes Kuppeldach, bemalt mit Zyklamen und Rosen. Entworfen als Garten der Wissenschaft und Architektur, sollte der Raum den Geist beflügeln, aber die Regale in dem großen Rund sehen aus wie drolliges Gestrüpp, dunkel und verworren. Aus manchen fallen schon Früchte herab. Die Fenster sind verglast, und so bleibt der Gestank, von der Sonnenhitze intensiviert, im Raum gefangen. Alles scheint Gift auszuschwitzen.
    Leute, die sich miteinander unterhalten haben, verstummen, als ich hereinkomme. Den Mienen Einzelner ist abzulesen, ob sie mich erkennen oder nicht. Ich nehme ihre Reaktionen nicht persönlich. Im Gegenteil, in meinem Gepränge genieße ich sie meist.
    Ein Mann wartet auf mich. Er wirkt älter, als ich es bin, obwohl er wahrscheinlich jünger

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