Die Geheimnisse der Toten
ist. Er blinzelt mir entgegen und trägt dabei den Hals wie eine Wachtel, die Körner pickt. Seine Tunika aus grauem Tuch reicht ihm bis über die Waden. Im Unterschied zu denen der anderen sind seine Hände nicht von Tinte befleckt, woraus zu schließen ist, dass er seinen Lebensunterhalt nicht als Kopist verdient, sondern mit dem Schleppen von Manuskripten.
«Bist du der Bibliothekar?»
Er nickt flüchtig. Sein Gesicht ist zerknautscht wie ein zusammengeballter Stofflappen. Er lebt seit Jahren zwischen diesen Schriftrollen und hat mit dem, was vorgefallen ist, wohl nicht gerechnet.
«Ist die Leiche noch da?»
Er zuckt vor Schreck zusammen. «Der Bestatter kam vor einer Stunde.»
Ein Mordfall ohne Leiche. «Kannst du mir zeigen, wo du ihn gefunden hast?»
Er führt mich durch einen engen, verwinkelten Gang zwischen Regalen vor ein Stück Wand mit Fenster, durch das gelbliches Licht auf einen Schreibtisch voller Manuskripte fällt, der daruntersteht. Der Schemel ist abgerückt. Man kann sich leicht vorstellen, dass soeben noch jemand darauf gesessen hat, kurz austreten musste und gleich zurückkehrt, um seine Lektüre fortzusetzen.
«Weißt du, wer es getan hat?»
Die Frage liegt auf der Hand, ich muss sie stellen. Der Bibliothekar schüttelt heftig den Kopf und deutet auf die Bücherwände, die die Sicht versperren.
«Keiner hat etwas gesehen.»
«Wer hat ihn gefunden?»
«Sein Assistent, ein Diakon namens Simeon. Der Bischof lag vornübergebeugt auf dem Tisch. Der Diakon dachte, er schliefe.»
«Ist er hier?»
Ohne zu antworten – oder wie zur Antwort – eilt der Bibliothekar durch den Gang davon, die Hände erhoben und an den Manuskriptreihen entlangtastend. Anscheinend haben ihn die vielen Jahre fast erblinden lassen. Als Zeuge ist er nicht zu gebrauchen.
Und was sehe ich? Ein Tintenfass und ein Schreibrohr auf dem Tisch, ein Messer mit elfenbeinernem Griff und ein kleines Gefäß daneben. Späne, die abgefallen sind, als der Bischof das Rohr spitzte.
Warum hat er sich nicht mit dem Messer verteidigt?, frage ich im Stillen. Das Gefäß ist mit einer weißen Paste gefüllt. Sie riecht nach Kleber. Ich stelle es zurück und untersuche die Schriften. Bischof Alexander hat offenbar viel gelesen. Der Tisch ist voller Schriftrollen; manche sind unberührt, andere haben sich vom Holzstab in der Mitte abgewickelt, vielleicht, als der Tote auf den Tisch fiel.
In der Mitte liegt ein sogenannter Kodex, gebunden aus einzelnen Pergamentseiten. Darin zu lesen muss ziemlich umständlich sein, aber ich weiß, dass die Christen solche Kodizes den Schriftrollen gegenüber bevorzugen. Ich beuge mich vor, um zu sehen, was der Bischof kurz vor seinem Tod gelesen hat, kann aber nichts entziffern. Die aufgeschlagene Seite, auf der sein Kopf gelegen hat, ist blutdurchtränkt, die Seite daneben unbeschrieben. Seine Vergangenheit ist unkenntlich, die Zukunft leer. Ich versuche, das Geschriebene sauberzuwischen, aber das Blut ist geronnen. Ich verschmiere es nur noch mehr. Unter den Flecken schwimmen Schatten von Worten wie Fische unter Eis – unerreichbar.
«Willst du darin Antworten finden?»
Ich blicke auf. Der Bibliothekar ist mit einem jungen Mann zurückgekehrt – hoch aufgeschossen, mit ansehnlichem Gesicht und zerzausten schwarzen Haaren. Er trägt eine schlichte schwarze Robe und Sandalen. Auch seine Hände sind so schwarz, dass ich auf den ersten Blick annehme, er trägt Handschuhe. Doch dann sehe ich, dass es sich um Tinte handelt. Aber wieso sind beide Hände verschmiert?
Ich deute auf den Schreibtisch. «Du hast die Leiche gefunden?»
Der junge Mann nickt. Ich mustere ihn genau, gefasst darauf, einen Anflug von Schuld in seinen Gesichtszügen zu erkennen, doch sie spiegeln alle möglichen Emotionen, vor allem Trauer, aber auch Wut, Angst und ein wenig Trotz – nur keine Schuld. Wenn er noch nicht wusste, wer ich bin, wird es ihm der Bibliothekar inzwischen bestimmt gesagt haben. Er ist offenbar entschlossen, sich nicht von mir einschüchtern zu lassen.
«Dein Name ist Simeon?»
«Ja, ich bin – ich war Bischof Alexanders Sekretär.»
Seine dunklen Augen prüfen mich. Er scheint sich zu fragen, was ich denke. Ob er es wirklich wissen will? Du könntest es gewesen sein. Konstantin verlangt nach einer raschen Aufklärung. Dieser Bursche, der den Toten gefunden und Tinte oder Blut an den Händen hat, war womöglich voller Zorn auf seinen Herrn, aus welchen Gründen auch immer. Er könnte es gewesen
Weitere Kostenlose Bücher