Die Geheimnisse der Toten
Zum Glück blieb ihr noch der Fernseher. Den vielen Mahnschreiben nach zu urteilen, die ihr von der Gebühreneinzugszentrale zugestellt worden waren, hätte man ihr wohl auch den gesperrt, wenn es denn möglich gewesen wäre.
Am Samstag fuhr sie mit dem Bus zum Sloane Square, um sich einen billigen Laptop und eine Prepaid-Karte zuzulegen. Das Gedränge war noch schlimmer als am Vortag, doch diesmal kam sie besser damit zurecht. Wie ein Gespenst wandelte sie umher, von niemandem beachtet. Am Abend blätterte sie durch die Werbeblättchen, die auf dem Boden vor ihrer Tür gelegen hatten, darunter jede Menge Angebote von Pizzataxis. Eines, dessen Angebot nicht allzu ungesund aussah, rief sie per Handy an, bestellte und schaute sich später eine Reihe langweiliger Filme an, bis ihr die Augen zufielen.
Am Sonntag verbrachte sie geschlagene drei Stunden damit, über das Handy mit ihrem Laptop ins Internet zu kommen. Als es ihr schließlich gelang und das primärfarbene Logo einer Suchmaschine auf dem Bildschirm erschien, empfand sie absurderweise einen Anflug von Triumph. Sie versuchte, auf ihr E-Mail-Konto zuzugreifen, konnte sich aber an das Passwort nicht erinnern. Die neuesten Nachrichten vergaß sie wieder, kaum dass sie sie gelesen hatte. Sie suchte nach Meldungen über den Anschlag auf die Villa und war überrascht, wie wenig davon zu finden war, nur eine Handvoll kurzer Berichte, die sich auf das Wesentliche beschränkten, und einen Artikel des montenegrinischen Magazins Monitor . Eine Zeile daraus sprang ihr ins Auge.
Die Vermutung, wonach eine prominente kriminelle Organisation involviert sein könnte, weist die Polizei in aller Entschiedenheit zurück.
Vermutung? Wessen Vermutung? Eine Antwort darauf war nirgends zu finden.
In der Nacht wurde Abby von Albträumen geplagt, die sie in die Villa zurückversetzten. Sie rannte an den Säulen entlang. Statuen kippten zu Boden und zerbarsten um sie herum. Der Killer stand mit erhobener Pistole vor ihr. Sie starrte in sein brutales Gesicht, das sich plötzlich in das von Michael verwandelte, dessen Lippen Worte formten, die sie nicht hören konnte.
Die Pistole krachte. In kaltem Schweiß gebadet, schreckte Abby aus dem Schlaf auf. Die Haut unter den Verbänden juckte so sehr, dass sie sie am liebsten abgerissen hätte, auch auf die Gefahr hin, zu verbluten. Sie nahm ihr neues Handy vom Nachttisch, starrte auf die Uhr und drängte die Zeit, schneller zu vergehen.
Am frühen Morgen wählte sie die Nummer auf der Visitenkarte.
«Hi, Mark, ich bin’s, Abby. Die Frau aus dem Kosovo.»
«Ich weiß. Wie geht es Ihnen?»
«Gut. Sehr gut.» Nur ja kein Mitleid erregen. Und dann platzte es aus ihr heraus: «Kann ich Sie sprechen? Im Büro?»
Eine Pause. Er will nicht, dachte Abby. Seine Sorge ist nur vorgetäuscht. Dafür wird er bezahlt.
«Natürlich.»
«Wann?»
Der verzweifelte Unterton in ihrer Stimme war ihm offenbar nicht entgangen. «Heute Nachmittag.»
Die Mauern des Whitehall-Palastes ragten an der King Charles Street mit finsterer Geste in den Himmel. Modernere Gebäude mochten höher sein, verfehlten aber die Wirkung, den Betrachter klein zu machen, worauf sich die Architekten der Stuarts bestens verstanden hatten.
Abby passierte das riesige, dreiflügelige Tor zum Auswärtigen Amt, ließ ihre Tasche durchsuchen und nannte an der Rezeption ihren Namen. Eine Überwachungskamera an der Wand schwenkte auf sie ein. Nachdem sie ihr Handy in einem kleinen Schließfach deponiert hatte, setzte sie sich zu den anderen Besuchern ins Wartezimmer und wartete darauf, dass Mark kommen und sie retten würde.
«Verzeihung.» Ständig entschuldigte er sich, ohne in Wahrheit den geringsten Anflug von Zerknirschung zu zeigen. Er führte sie hinauf ins zweite Obergeschoss, bat sie, in einem von Glaswänden abgeteilten Konferenzzimmer Platz zu nehmen, und machte sich auf den Weg, um Tee zu holen. Als er die Tür hinter sich zuzog, hörte sie einen Riegel klicken. Auf einer Schalttafel neben der Tür leuchtete ein rotes Licht auf.
Abby trat ans Fenster, dessen Scheibe in horizontalen Streifen mattiert war, und schaute nach draußen. Ihre Abteilung war während ihres Einsatzes im Kosovo umgezogen, und in den neuen Räumen gab es noch keinen Arbeitsplatz für sie. Auch der Schreibtisch war ihr genommen. Sie hatte den Eindruck, als wäre ihr ganzes Leben Stück für Stück auseinandergepflückt und in einen Karton geworfen worden. Sie hatte nach ihrer Vorgesetzten gesucht
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