Die Geheimnisse der Toten
nicht geplant, dass ich länger bleibe.»
«Na schön.» Und dann, als hätte sie noch etwas gesagt: «Sapperlot!»
Bin ich in eine Zeitmaschine geraten? Sagt man heute wirklich noch ‹sapperlot› ?
Ein dummer Gedanke, aber in ihrer Verfassung reichte schon eine kleine Verunsicherung, um aus dem Tritt zu kommen. Sie fing an zu zittern und sah, dass Mark sie aus seinen blauen Augen besorgt und ratlos musterte. Er legte ihr eine Hand auf den Arm.
«Alles in Ordnung mit Ihnen?»
«Mir ist ein bisschen schwindelig.» Sie setzte sich in eine der Sitzreihen aus Kunststoffschalen. «Vom Flug wohl.»
«Ich hole nur schnell den Wagen.»
Kaum hatte er ihr den Rücken gekehrt, öffnete sie das kleine gelbe Arzneifläschchen, das man ihr im Krankenhaus gegeben hatte, und schüttete zwei Pillen in ihre Hand. Beim Check-in hatte man ihre Wasserflasche konfisziert, weshalb sie die Pillen trocken schlucken musste. Sie kratzten in der Kehle.
Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Nicht dass man am Ende Mitleid mit dir haben muss.
Mark tauchte wieder auf. Wie lange er weg gewesen war, wusste sie nicht. Vielleicht brachten die Pillen ihr Zeitgefühl durcheinander.
«Wohin?»
Abby besaß eine Eigentumswohnung in Clapham, am Nordrand der Gemeindewiese. Als das Scheidungsverfahren anlief, hatten die Anwälte zum Verkauf geraten, doch sie wollte daran festhalten und hatte die doppelte Hypothekenlast in Kauf genommen, um Hectors Anteil auf sich überschreiben zu lassen. Eine törichte Entscheidung. In den vergangenen drei Monaten hatte sie kaum zwei Wochen in der Wohnung zugebracht. Sie hegte ein paar gute Erinnerungen an ihre Ehe, wenn auch die schlechten überwogen. Bald würden sie alle vergessen sein. Doch weil sie sich ohnehin nirgends mehr wirklich verankert fühlte, war ihr der Gedanke, keinen festen Wohnsitz zu haben, unerträglich. Während ihrer Zeit im Kosovo war die Wohnung an ein pakistanisches Ärztepaar untervermietet gewesen, das im St. Thomas arbeitete. Der Makler hatte ihr versichert, es seien anständige Leute, und vielleicht waren sie das auch, aber aufgrund von Schwierigkeiten mit der Ausländerbehörde hatten sie das Land Hals über Kopf verlassen müssen. Seitdem stand die Wohnung leer.
Ihr war, als kehrte sie an einen Ort ihrer Kindheit zurück. Die Umrisse waren ihr vertraut, aber die Einzelheiten stimmten nicht mehr. Die Mieter hatten mehrere Möbelstücke umgestellt. In den Küchenschränken befanden sich Gegenstände, die nicht ihr gehörten, und an der Wand hing ein Magritte-Poster, an das sie sich nicht erinnerte. Das ungute Gefühl drängte sich ihr auf, jemand habe versucht, aus alten Fotos ihr Leben zu rekonstruieren, wobei etliche Fehler zustande gekommen waren.
Oder sind das meine Fehler? Ihr Gedächtnis war zum Großteil zurückgekehrt, hatte aber immer noch einige Lücken. Es glich einer alten, gewellten Schallplatte, die ohne Vorwarnung den Tonabnehmer springen ließ.
«Tolle Aussicht.»
Mark stand an einem Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte und auf die Queenstown Road hinausging, auf Reihenhäuser und Billigläden, den Battersea Park und die Türme der Themsebrücken dahinter. Er hatte darauf bestanden, sie hinaufzubegleiten, und sie hatte nicht nein sagen können, wohl wegen der Pillen im Blut.
«Ich habe im Büro angerufen», fuhr er fort, heiter wie zuvor. «Ich soll Ihnen sagen, Sie brauchen sich um Ihren Arbeitsplatz keine Sorgen zu machen. Sie sind krankgeschrieben, bis es Ihnen wieder wirklich gutgeht.»
Abby stand in der offenen Küche, die drei Stufen über dem Wohnbereich lag, und blickte auf ihn hinab. Ihr war fast, als schwebte sie über ihm.
Hol mich runter, dachte sie.
Er griff in die Innentasche seines Jacketts und reichte ihr eine Visitenkarte mit dem Prägesiegel des Außenministeriums. Mark Wilson, Auswärtiges Amt, Balkan-Büro.
«Rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen.»
Es fiel ihr schwer, das Wochenende zu überstehen.
Am Freitag zwang sie sich, in der Clapham High Street ein paar Anziehsachen zu kaufen. Der Tag war grau verhangen, aber nicht kalt. Die Verbände brachten sie ins Schwitzen. Sie hatte gedacht, dass ihr ein bisschen Bewegung guttäte, doch im Gedränge auf der Straße fühlte sie sich einsam und verloren. So viele Menschen, die nichts mit ihr gemein hatten. Nach Hause zurückgekehrt, wollte sie telefonieren und musste feststellen, dass die Leitung tot war. Anscheinend hatte die Telefongesellschaft den Anschluss stillgelegt.
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