Die Geheimnisse der Toten
vergeblich nach einer Person namens Lascaris mit Wohnsitz in York. Anschließend machte sie sich daran, über Online-Gemeinschaften Kontakt zu Freunden aufzunehmen. Es gelang ihr auch, einige ausfindig zu machen, doch entweder waren deren Telefonnummern nicht mehr gültig, oder aber es meldete sich ein Anrufbeantworter. Was ihr auffiel, war, dass sie insgesamt nur sehr wenige Freunde hatte, eine Handvoll bloß, die noch in England wohnten. Am Ende dachte sie daran, Hector anzurufen – war sogar ernstlich versucht –, entschied sich dann aber dagegen.
Das bringt ja doch nichts.
Irgendwie überstand sie auch die nächsten drei Tage. Sie zwang sich zu Spaziergängen durch den Clapham Common, morgens und nachmittags, und steckte sich jedes Mal ein neues Ziel: die Orchesterbühne, den Fischteich, die U-Bahn-Haltestelle. Um sich nicht immer nur Essen kommen zu lassen, kaufte sie im Supermarkt eine Tasche voller Fertiggerichte und redete sich ein, dass dies schon ein Fortschritt sei. Immer wieder recherchierte sie im Internet über ihren Fall, doch es gab nichts Neues. Sie nahm ihre Tabletten.
Und dann kam der Brief.
Fast hätte sie ihn weggeworfen. Der Umschlag mit der aufgedruckten Adresse sah aus wie eine weitere Mahnung der Gebühreneinzugszentrale. Aber immerhin stand ihr Name darauf, und sie war dankbar, dass man in der Welt da draußen überhaupt noch von ihrer Existenz Notiz nahm.
Wie pathetisch, dachte sie und riss den Umschlag auf.
Es war keine Mahnung. Es war ein einziges Blatt Papier mit drei getippten Zeilen in der Mitte.
Jenny Roche
36 Bartle Garth
York
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Konstantinopel – April 337
In all den Jahren an der Seite Konstantins konnte es natürlich nicht ausbleiben, dass ich bestimmte Ansichten entwickelte. Zum Beispiel folgende: Das Geheimnis von Größe liegt darin, der Vergangenheit zu entfliehen. Die Vergangenheit ist ein Nebel, der dich zu ersticken versucht, ein Chor krittelnder Stimmen, die zu Vorsicht, Zurückhaltung und Mäßigung aufrufen. Ein vorwurfsvolles «Nein» mit dem vollen Gewicht der Geschichte.
Ein großer Mann ist unzufrieden mit der Welt und drängt darauf, sie zu verbessern. In der Vergangenheit sieht er vor allem ein Hindernis. Ein großer Mann will die Welt mit dem Verstand erfassen und sie nach dem Bild seiner geläuterten Vorstellung neu erschaffen.
Konstantin mag die Stadt Rom nicht. Sie hat für ihn zu viel Geschichte. Zu viel Chaos. Tempel, die aus Lehm und Stroh gebaut sind, Paläste, die von einfachen Wohnhäusern überschattet werden. Als man uns in der Jugend beibrachte, wie Cäsar in Subura unter Plebejern aufwuchs, fiel mir auf, wie angewidert Konstantin war von diesem Durcheinander der natürlichen Ordnung. Pracht und Krankheit, Erhabenheit und Schmutz schienen ineinander überzugehen. Zu viel Geschichte, zu viele Gespenster.
Ich mag Rom auch nicht.
Konstantinopel bot sich Konstantin als eine leere Leinwand dar, die er von Grund auf neu gestalten konnte. (Genau genommen gab es allerdings an derselben Stelle schon seit Tausenden von Jahren eine Stadt, nämlich Byzanz. Aber zur wahren Größe gehört eben auch die Fähigkeit, nur das zu sehen, was man sehen will.) Und so entspricht die neue Stadt, Konstantins Stadt, seiner Vision und Vorstellung davon, wie die Welt sein sollte. Sie gründet nicht etwa im Sumpf, sondern auf Felsen und ist entlang der Halbinsel ständisch gegliedert: Jenseits der Mauern haust das niedere Volk, nach Osten hin schließt sich bis zum Philadelphion das Wohngebiet der Händler und curiales an, also der Bediensteten des Kaiserhofes. Dann folgen die herrschaftlichen Villen der Senatoren, der spectabiles und clarissimi , und zwar in einer Reihe bis zum Hippodrom, als stünden sie an einem Renntag Schlange. Und schließlich thront am Kap der Kaiserpalast. Sein einziger unmittelbarer Nachbar ist das Meer.
So verhält es sich jedenfalls in der Theorie. Praktisch ist die Stadt erst fünf Jahre alt, und schon gibt es Abweichungen von Konstantins Plänen. In dem von ihm angelegten Stufengarten wuchert gewissermaßen Unkraut: Zwischen zwei Villen erhebt sich ein Wohnblock; ein Herrenhaus wurde verkauft und in Wohnzellen unterteilt; in einer feinen Gegend machen sich Händler breit. Ich kann mir vorstellen, dass sich Konstantin all dies mehr zu Herzen nimmt als die Gefahr, die von Barbaren oder Eroberern ausgeht.
Ich gehe über die Via Mesi auf den Palast zu, in der Hand eine Schriftrolle mit den Namen der Männer,
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