Die Geheimnisse der Toten
«Dragović wollte von mir wissen, warum ich noch lebe.»
«Man hielt Sie für tot und ging fast recht in dieser Annahme.»
«Nein.» Sie kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Stirn, um gegen beginnende Kopfschmerzen anzukämpfen. «Dragović sagte, es wäre noch jemand anderes da gewesen. Dieser Mann, von dem ich gesprochen habe, ist aber nie wiederaufgetaucht, auch nicht als Leiche.» Sie blickte auf. «Oder doch?»
«Die Polizei fand nur Michaels Leiche. Möglich, dass dieser andere Typ aufs offene Meer hinausgetrieben wurde.»
«Aber wer hat ihn dann umgebracht?» Abby senkte wieder ihren Blick. «Was wollen Sie von mir?», fragte sie erneut.
Jessop ergriff ihre Hand. Sie versuchte, sich ihm zu entziehen, doch er ließ nicht locker.
«Schauen Sie mich an.» Sie wandte sich ab wie ein trotziges Kind und mied seinen Blick. « Schauen Sie mich an! Glauben Sie, die Sache wäre mit Michaels Tod beendet? Dragović dreht seit jener Nacht am Rad. Dass er Sie entführen ließ, um mit Ihnen zu sprechen, ist mehr als ungewöhnlich. Manche seiner engsten Verbündeten haben ihn nie zu Gesicht bekommen. Warum also Sie?»
Wundern Sie sich eigentlich nicht, dass Sie noch leben?
«Wir haben Gespräche unter Dragovićs Leuten aufgeschnappt – mehr als in all den Monaten zuvor. Michael war in eine große Sache verwickelt, die den Rahmen herkömmlicher Schmuggelgeschäfte, von denen wir wissen, sprengt. Worum es aber konkret geht, ist uns noch ein Rätsel.»
Abby gab ihren Widerstand auf, blickte Jessop an und suchte Trost in seinen grauen Augen. Vergeblich.
«Mir auch. Ich weiß nicht einmal, warum ich noch lebe.»
«Sie besitzen etwas.»
Sie deutete auf ihre Tasche. «Alles, was ich habe, ist da drin.»
«Denken Sie nach. Hat Michael etwas gesagt, was uns weiterhelfen könnte? Hat er Ihnen etwas gegeben?»
«Es könnte sein, dass er etwas in meiner Wohnung zurückgelassen hat.»
«Die haben wir gründlich durchsucht.» Als er ihre Verärgerung sah, fügte er hinzu: «Verzeihung, aber Sie waren nicht da, um uns die Tür zu öffnen.»
Als sie erneut ihre Hand zurückzuziehen versuchte, ließ er endlich von ihr ab. Doch in dem Labyrinth, durch das sie sich von Jessop, Michael und Dragović gehetzt sah, nahm ein Gedanke Gestalt an.
«Können Sie mir einen Zugang zu Camp Bondsteel verschaffen?»
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22
Konstantinopel – April 337
Wieder senkt sich die Sonne und mit ihr der Staub des Tages. Die Händler verrammeln ihre Läden, Hufschmiede und Töpfer löschen die Esse für die Nacht. Hinter geschlossenen Türen dehnen Taschendiebe ihre Finger, wetzen Mörder Messer, und mischen eifersüchtige Frauen Gift in den Wein der Männer.
Ich halte Wache am Hang hoch über dem Meer, auf dem sich kupfern die Strahlen der Sonne brechen. Meine Aufgabe ist es, die Front zwischen Tag und Nacht im Auge zu behalten. Ich weiß nicht, wen ich suche, und kann nur hoffen, ihn zu erkennen, wenn ich ihn sehe. Ich bin allein. Simeon wollte mich begleiten, doch ich schickte ihn fort. Seine Geschichte von der in der Kirche hinterlassenen Nachricht kommt mir unglaubwürdig vor. Trotzdem hat sie mich neugierig gemacht.
Die Statue der Venus steht im Süden der Stadt auf einem kleinen Platz, an dem fünf Straßen aufeinandertreffen. Unausweichlich finden sich hier Prostituierte ein. In dieser Nacht aber sind es nicht viele, was vielleicht an meiner Gegenwart liegt.
Wie alle Wachen auf der ganzen Welt lasse ich meine Gedanken schweifen und erinnere mich …
… im Dunkeln vom Bett aufgestanden und möglichst leise, um niemanden aufzuwecken, in mein grobes Wollgewand geschlüpft zu sein. Die Nacht war so kalt, dass die gefrorenen Wasserschläuche geplatzt sind. Vor mir liegt der dunkelste Tag des dunkelsten Monats an einem der dunkelsten Orte überhaupt.
Konstantin öffnet die Tür. Wir schleichen hinaus, über den Exerzierplatz und an den Ställen vorbei. So früh am Morgen besteht die Welt nur aus Gerüchen und Geräuschen. Der Rauch von verbranntem Holz hängt in der Luft, eingepferchte Schafe, die auf den Schlachter warten, blöken, und im Stall hört man Pferde kauen. Das Haupttor ist verriegelt, aber im Ostturm befindet sich ein Nebeneingang, und die Wächter schlafen.
Hinter den Mauern knirschen unsere Stiefel auf bereiftem Gras. Wir überschreiten eine Grenze und verlassen unsere Welt, klettern über einen Erdwall, durchqueren das Flusstal und wenden uns dem Höhenrücken zu. Vor Kälte tut mir der Kopf
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