Die Geheimnisse der Toten
Mitglied der FORCE PROTECTION aus. Sie fragte sich, warum die stärksten Streitkräfte der Welt eine Schutzeinheit brauchten und was sie wohl schützen sollte. Er verlangte ihren Passierschein zu sehen und zeigte sich befremdet, als sie den nicht vorweisen konnte.
«Ich arbeite für EULEX», sagte sie, «und muss mit einem Ihrer Soldaten sprechen. Specialist Anthony Sanchez.»
Er legte die Stirn in Falten, worauf ein großer schwarzer Sergeant herbeieilte. «Gibt es Probleme, Ma’am?»
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so schnell zu Schwierigkeiten kommen würde, und fing an zu stottern. «Nein … ich … ich möchte nur jemanden sprechen, der hier stationiert ist. Specialist Anthony Sanchez.»
«Sie ist von der Abteilung für Justiz», erklärte der Wachsoldat.
«Gibt es Probleme mit Sanchez?»
«Nein.»
«Wollen Sie seinem Vorgesetzten eine Meldung machen?»
«Darum bin ich nicht –»
«Sind Sie sicherheitsüberprüft?»
«Ich –»
«Vielleicht sollten Sie ein anderes Mal wiederkommen, Ma’am», sagte der Sergeant und kritzelte eine Nummer auf ein Stück Papier, das er ihr dann reichte. «Da können Sie anrufen und sich beschweren. Unsere Stelle für Öffentlichkeitsarbeit.»
«Danke.»
Von einer Putzkolonne und Handwerkern begleitet, die Feierabend hatten, kehrte sie zum Parkplatz zurück. Doch weil sie sich nicht schon wieder ans Steuer setzen wollte, ging sie in das Café auf der anderen Straßenseite, ließ sich eine Tasse Kaffee geben und betrachtete die dunklen Wolken, die sich über dem Tal zusammenbrauten. In diesem Landstrich kam es häufig zu Unwettern.
Michael hätte sich nicht aufhalten lassen, dachte sie. Er hätte den Wachsoldaten mit flotten Sprüchen und einer Flasche Whisky um den Finger gewickelt. Als sie sich ihr Gespräch mit ihm in Erinnerung rief, verzog sie unwillkürlich ihr Gesicht. Was war nur mit ihr los, dass sie so versagte? Sie starrte aus dem Fenster auf Betonmauern und Wachtürme. In ein solches Lager einzubrechen war ein Ding der Unmöglichkeit.
Sie trank ihren Kaffee aus und traf eine Entscheidung. Das Café hatte einen Münzfernsprecher. Sie wählte die Nummer in Jessops Nachricht. Er war sofort am Apparat.
«Freut mich, von Ihnen zu hören.»
«Was machen Sie im Kosovo?»
«Dieselbe Frage könnte ich Ihnen stellen.» Er klang weder verärgert noch bedrohlich, sondern durchaus freundlich. Abby zwang sich, einen weniger freundlichen Ton anzuschlagen.
«Ist Mark im Lande?»
«Er hängt in London fest.» Jessop schien kein Problem damit zu haben.
«Ich möchte Sie sprechen.»
«Ihr Wunsch beruht auf Gegenseitigkeit.»
Sie trafen sich in der Bar Ninety One. Michael hatte sie scherzhaft als «EULEX en miniature» bezeichnet, denn es war eine Kreuzung zwischen einem französischen Café und einem englischen Pub, untergebracht in einem jugoslawischen Gebäude mit zerschossenen Fenstern im Obergeschoss. Die Bar war gut besucht, die Luft entsprechend stickig. Abby hätte einen weniger auffälligen Treffpunkt vorgezogen. Er war Prištinas Antwort auf Rick’s Place in Casablanca: Früher oder später tauchte hier jeder Diplomat, Verwaltungsbeamte, Journalist oder Spion auf. Sie erkannte drei deutsche Richter wieder, die sich mit dem Polizeichef unterhielten. An einem anderen Tisch saß der Stabsleiter von EULEX und füllte mit einem Offizier einen Wettschein für Spiele der Premier League aus.
Jessop saß in einer Ecke und sah sich im Fernsehen ein Fußballspiel an. Auf dem Tisch vor ihm standen unangerührt ein Peja-Bier und ein Pint Guinness. Kaum hatte er Abby gesehen, winkte er sie zu sich, als sei ihr Treffen das Natürlichste von der Welt, und schob ihr das Bier zu.
Sie erinnerte sich abermals an Michaels Notizbucheintrag. Jessop, 91. «Kommen Sie öfter hierher?»
«Immer wenn ich in der Stadt bin.»
«Man munkelt, die CIA würde auch solche Orte verwanzen. Ist Ihnen doch bewusst, oder?»
Er zog ein Diktiergerät aus der Jackentasche und betrachtete es mit gespielter Skepsis. «Dann brauche ich das wohl nicht.»
Abby stellte ihre Tasche auf dem Tisch ab und öffnete sie. «Ich will es Ihnen leicht machen. Bedienen Sie sich. Nur keine falsche Scham.»
Jessop ging darauf nicht ein. «Sie sind eigentlich krankgeschrieben. Warum sind Sie in den Kosovo zurückgekehrt?»
«Um Leuten wie Ihnen aus dem Weg zu gehen.»
«Und wie läuft’s für Sie?» Er starrte ihr ins Gesicht. Rings um die von Dragovićs Pistole geschlagene Platzwunde hatte sich
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