Die Geheimnisse der Toten
weh, doch der Schmerz ist gut: Er ist rein und klar zu deuten.
Auf der Hügelkuppe treffen wir auf drei Birken und eine Stechpalme. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen, aber im Osten dämmert es. Konstantin bleibt stehen und orientiert sich am intensivsten Blau des Horizonts. Wie zu einem Nimbus steigt sein dampfender Atem auf.
«Wenn der Tribun herausfindet, dass wir ohne Erlaubnis das Lager verlassen haben, wird er uns eine Woche lang Nachtwache halten lassen», befürchte ich grummelnd (meine Erinnerung greift offenbar weit zurück; ich glaube, wir sind zu diesem Zeitpunkt nicht älter als sechzehn). «Oder es kommt noch schlimmer. Was, wenn uns Einheimische hier antreffen, zwei römische Soldaten auf der falschen Seite des Walls?»
Konstantin zieht sein Schwert, deutet damit auf den Horizont und schwingt es dann in die entgegengesetzte Richtung. «Weißt du, worin der Unterschied zwischen dort drüben und hinter uns besteht?»
«In besser aussehenden Frauen?», rate ich.
Er zeigt zurück auf das Fort, das kaum noch zu erkennen ist. «Hinter diesen Wällen fürchtet niemand einen Angriff, und vor uns liegt nichts, was wert wäre, verteidigt zu werden.»
«Stehst du deshalb hier und frierst und lauschst den Schatten?»
Er geht auf meine Frage nicht ein. «Weißt du, warum?»
«Warum was?»
«Warum das Imperium Frieden bedeutet?»
«Weil unsere Armeen allen, die uns bedrohen, die Kampfeslust austreiben.»
«Konformität.» Er schaut immer noch auf die Festung in der Ferne. «Unser Reich umspannen vierzehntausend Meilen Grenze, und auf jeder Meile steht ein solches Fort. Sie alle werden von Soldaten verwaltet, die dieselbe Sprache sprechen. Überall, ob an der Donau, dem Nil oder der Tyne, isst man dieselben Speisen, singt dieselben Lieder und preist dieselben Götter.»
Ich stampfe von einem Fuß auf den anderen und frage mich, wie ich dem Centurio Frostbrand an den Zehen erklären soll. Konstantin sieht mich an.
«Warum beten wir zu den Göttern?»
Ich reibe mir die Augen. Ich bin zu müde für solche Themen. Der schwarze Himmel streift sich ein königliches Purpur über.
Ohne auf eine Antwort zu warten, schließt Konstantin eine weitere Frage an: «Um ein schlechtes Geschick abzuwehren?»
«Ja, genau.» Das habe ich auch sagen wollen. «Aber vielleicht sollten wir mehr von unseren Göttern erwarten. Es sind schließlich Götter.»
«Sie sind eifersüchtig, ehebrecherisch, mordlüstern – sie schrecken nicht davor zurück, ihre eigenen Eltern, Brüder oder Kinder zu töten, mit einem seltsamen Hang zur Grausamkeit.»
«Die alten Götter.» Er wendet sich von ihnen ab, wie wir uns von unseren Greisen abwenden. «Es gab einen griechischen Philosophen – ich habe seinen Namen vergessen –, der sagte, die Götter seien bloß Legenden, die von Menschen handeln, die wirklich gelebt haben, und mit jeder Generation neu ausgeschmückt wurden, sodass wir schließlich glauben, sie erzählten von Göttern.»
Ich berühre das eiserne Amulett, das ich an meinem Hals trage, meinen Schutz vor bösen Kräften.
«Während der vergangenen fünfzig Jahre haben sich unsere Herrscher wie Götter benommen und darüber das Reich fast verloren. Wir müssen über das Vertraute hinausblicken. Auf einen höheren Gott.»
«Veränderung geht immer von oben aus.»
«Die alten Götter sind Fürsten der Finsternis. Wir sollten einen Gott des Lichts verehren. Einen einzigen Gott für eine Welt.» Er zupft eine Beere von der Stechpalme und zerquetscht sie zwischen den Fingern. Es sieht aus, als habe er sich gestochen und würde bluten. «Das Licht kam in die Welt, und die Dunkelheit konnte es nicht verstehen.»
«Was ist das?»
«Das habe ich in einer Messe gehört.» Er klingt wie weggetreten. «Wenn du aufblickst, gleichgültig, an welchem Ort, siehst du die Sonne und weißt, dass sie bei dir ist. Sie wärmt dich, lässt die Früchte reifen und beleuchtet deinen Weg. Und nach dem Wintertod kehrt sie zurück. Unbesiegbares Licht.»
Mit ausgestreckten Armen wendet Konstantin sich gen Osten. Am Horizont ein helles Band, doch noch ist die Sonne nicht aufgegangen. Die Welt liegt im Dunkeln.
Ich frage mich, warum ich mich gerade daran erinnere. Es hatte mit dem, was folgen sollte, nichts zu tun. Davon ist auch in Alexanders Chronicon nicht die Rede, aber wenn Konstantin gestorben ist, werden sich Geschichtsschreiber die Freiheit herausnehmen und behaupten, sein einziger Beitrag zum Schutz des Reichs habe darin bestanden,
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