Die Geheimnisse der Toten
ein dunkelroter Bluterguss gebildet.
Abby begegnete Jessops Blick mit trotziger Miene, sagte aber nichts. Jessop nahm einen großen Schluck aus seinem Glas.
«Wir haben Ihre Kette einem Experten vom British Museum gezeigt. Er hält sie für ein echtes antikes Schmuckstück aus dem vierten Jahrhundert römischer Zeit.»
«Kann ich sie zurückbekommen?»
«Sie ist in London unter Verschluss. Wenn Sie mir verraten, wo Sie sie herhaben, könnte ich sie Ihnen vielleicht per Express schicken lassen.»
Sie betrachtete sein Gesicht, die harten Züge und den biederen Haarschnitt. Es gab wenig, was Vertrauen hätte wecken können.
«Ich habe Ihnen in London die Wahrheit gesagt. Die Kette hat mir Michael zum Geschenk gemacht. Ich weiß nicht, woher er sie hatte.»
«Wussten Sie, dass er seltene Antiquitäten sammelte?»
Der Gesprächsverlauf gefiel ihr nicht. «Gegenfrage: Was war der Grund für Ihr Treffen mit Michael hier in Priština eine Woche vor seinem Tod?»
Jessop war zu beherrscht, um sich überrascht zu zeigen. «Hat er davon gesprochen?»
«Ich bin auf eine Notiz gestoßen.»
Er trank wieder einen Schluck Guinness und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. «Wie schön, dass es in diesem Teil der Welt anständiges Bier gibt.»
Abby lächelte nicht. «Warum haben Sie ihn getroffen?»
«Okay – wir wollen ja aufrichtig miteinander sein. Ich bin Mitglied einer Taskforce, die illegalen Handel bekämpft. Bei dem Treffen mit Michael ging es um Waffenschmuggel.»
«Hat er für Sie gearbeitet?»
«Er dachte, ich würde einen russischen Geschäftsmann vertreten, der AK-47er made in der Ukraine nach Italien verkaufen will.» Er hielt ihrem kritischen Blick stand und wartete darauf, dass bei ihr der Groschen fiel. «Michael war bereit, mir zu helfen.»
In der Bar brach plötzlich Jubel aus. Auf den Bildschirmen war zu sehen, dass die Heimmannschaft ausgeglichen hatte. Abby starrte unverwandt auf Jessop. Sie nippte an ihrem Bier und wünschte sich, der Lärm könnte wegspülen, was er gesagt hatte. Aber auch der Bittergeschmack in ihrem Mund änderte nichts.
Das Spiel begann von neuem, drängender jetzt.
«Haben Sie Beweise?», fragte Abby. «Sie haben sich als jemand anderes ausgegeben, um ihn in eine Falle zu locken. Vielleicht hat er Sie ebenfalls an der Nase herumgeführt.»
«Wir waren ihm schon monatelang auf der Spur und haben etliche Beweise.»
Seine Miene bot keinerlei Hoffnung an. Abby rückte vom Tisch ab und eilte zur Toilette. Als sie fünf Minuten später mit feuchten Augen und geröteter Haut zurückkehrte, saß Jessop immer noch an seinem Platz. Er hatte in ihrer Abwesenheit seinen Drink nicht angerührt.
«Was wollen Sie von mir?», flüsterte sie. «Michael ist tot. Hinter wem sind Sie noch her?»
«Es gibt da einen Mann namens Zoltán Dragović …»
«Ich bin ihm begegnet.»
Diesmal war es Jessop, dem die Verblüffung ins Gesicht geschrieben stand. Abby empfand Genugtuung.
«Am Freitag, in Rom. Hätten Sie mir nicht auf den Fersen sein müssen?»
«Unsere Zuständigkeit hat Grenzen», murmelte Jessop. «Fahren Sie fort.»
«Zwei seiner Männer haben mich in einen Wagen gezerrt und irgendwohin gebracht, in eine Art Museum oder ein Haus wie seine Villa in Montenegro. Ich dachte, er würde mich töten.» Sie wies mit der Hand auf ihr Kinn. «Aber dann ließ er es dabei bewenden.»
«Was wollte er von Ihnen?»
«Was hatte er mit Michael zu tun?»
Jessop seufzte. «Dragović ist der größte Menschen-, Waffen- und Drogenhändler auf dem Balkan. Michael arbeitete für den Zoll des porösesten Landes in dieser Region. Muss ich deutlicher werden?»
Abby konnte es immer noch nicht glauben und versuchte, sich etwas anderes einzureden. Aber tief im Inneren, in den kälteren Winkeln ihrer Seele, wusste sie es besser. Michaels nie versiegender Zufluss an Spielgeld, sein Auto und die Luxusausflüge waren selbst für die Standards der Ausländer in Priština mehr als extravagant. Die Villa. Plötzlich tauchte ein Bild aus ihrer Erinnerung auf, das bislang obskur und verleugnet geblieben war.
«In jener Nacht», sagte sie langsam, «als wir in der Villa waren, bin ich aufgewacht und nach draußen gegangen. Michael stand mit diesem Mann, der ihn getötet hat, am Pool. Sie haben aber nicht etwa miteinander gestritten, sondern sich gemeinsam etwas angeschaut. Der Mann hat Michael erst in dem Augenblick attackiert, als er mich sah.»
Sie dachte an Jessops eigentliche Frage zurück.
Weitere Kostenlose Bücher