Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
»Ich erinnere mich an einen Fall vor einigen Jahrhunderten, als plötzlich ein junger Mann erschien und behauptete, der Thronerbe zu sein. Eine eingehende Überprüfung ergab, dass das nicht den Tatsachen entsprach. Es wäre einfacher gewesen, ihn sofort wegzuschicken.«
»Ruhe, ihr Zweifler«, schalt der im blauen Gewand. »Mit eurem Gezänk würdet ihr jeden Thronanwärter in die Flucht schlagen.« Er senkte den Kopf und sprach im Singsangton einige Worte, die Avi nicht ganz verstehen konnte.
»Die spinnen doch«, flüsterte Hannah ihm ins Ohr.
»Jedenfalls habe ich sie mir ganz anders vorgestellt«, entgegnete Avi. Am liebsten hätte er Xander um Rat gefragt, aber die Kobolde steckten in einer Ecke des Raums die Köpfe zusammen und waren ins Gespräch vertieft. Also holte Avi tief Luft.
»Ich heiße Avi und bin Arethusas Erstgeborener. Und ich bin gekommen, um den Thron zu beanspruchen«, sagte er.
Der Mann im roten Gewand machte einen Satz vorwärts, packte Avis rechte Hand und musterte seine Handlinien. Der im grünen Gewand tat das Gleiche mit seiner linken. Währenddessen betete der im blauen Gewand weiter und brach dann plötzlich ab. Er hob den Kopf, kam auf Avi zu und blickte ihn unverwandt an.
»Er ist es«, verkündete er. »Daran besteht kein Zweifel.«
Wie drei Optiker musterten die Männer eindringlich Avis Augen.
»Du könntest recht haben.«
»Er hat recht.«
»Ich weiß, dass ich recht habe.«
»Ja, hast du.«
»Wir sind das Orakel«, sangen die drei im Chor. »Drei macht eins, so werden wir eins. Was prophezeit wurde, soll geschehen.«
Sie fassten sich an den Händen. Ihr Griff wurde immer fester und fester, bis sie miteinander verschmolzen. Ihre Arme flossen ineinander wie erhitztes Wachs, und als sie die Köpfe zueinander beugten, vereinten sich auch ihre Schädel zu einer brodelnden Masse, die nun viele Gesichter oder gar keines zu haben schien. Im nächsten Moment bewegten sich ihre Füße und drehten ihre ineinander übergehenden Körper erst langsam, dann immer schneller im Kreis, bis man sie nur noch verschwommen wahrnehmen konnte.
Gleichzeitig angewidert und gebannt beobachtete Avi die Szene.
Weißes Licht blitzte auf und überdeckte rasch die drei Körper, bis sie in einem Wirbelwind aus Feuer verschwanden. Mitten aus dem Strudel erhob sich eine einzige Gestalt, die etwa doppelt so groß war wie ein Mensch. Sie hatte das Gesicht der drei Männer, das nun, in Kombination, makellos glatt und unnatürlich ebenmäßig wirkte. Der Kopf war von einem leuchtenden Heiligenschein umgeben.
Während der Wirbelwind noch um Beine und Oberkörper tobte, ergriff die schimmernde Gestalt das Wort.
»Ich bin das Orakel«, verkündete sie mit dröhnender Stimme, so dass die Fenster in ihren Rahmen erzitterten. »Wer ist gekommen, um auszuführen, was vorhergesagt wurde?«
Als Avi antworten wollte, gehorchte seine Zunge nicht. Hannah versetzte ihm einen Rippenstoß.
»Ich«, stieß er hervor.
»Und hast du dich aus freien Stücken dazu entschieden?«
Avi spürte, dass plötzlich aller Augen im Raum auf ihm ruhten. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Natürlich hat er das!«, rief Xander. »Deshalb ist er doch hier.«
»Der Junge soll für sich selbst sprechen«, erwiderte das Orakel.
Plötzlich fühlte Avi sich von Zweifeln überwältigt. Als er Hannah ansah, zuckte diese nur hilflos mit den Achseln.
»Ich glaube schon.«
Das Orakel musterte ihn erstaunt. »Du bist hier, um die beiden Welten zu vereinen, damit das Feenreich und das Reich der Sterblichen wieder zusammengehören, und um das Déopnes zu überbrücken. Also musst du dir absolut sicher sein.«
Avi schluckte. Wegen dieser Prophezeiung war ich den Großteil meines Lebens auf der Flucht.
»Ich bin sicher«, antwortete er.
»Dann besteige den Thron, auf dass es geschehe.«
Mit mehr Überzeugung als zuvor stieg Avi die Stufen hinauf. Diesmal setzte er sich. Anfangs war das Sitzpolster weich und schien ihn willkommen zu heißen. Er lehnte sich zurück. Unmittelbar vor ihm zuckte ein Blitz durchs Fenster.
Im nächsten Moment schienen Avis Finger an den Armlehnen festgeschmiedet. Voller Angst versuchte er, die Hände zu heben, aber vergeblich. Wärme stieg ihm von den Handflächen aus die Arme hinauf, als ob ein Feuer seine Knochen bis aufs Mark durchdringen und sich in seinen sämtlichen Adern verteilen würde. Feuer – vielleicht war es auch Eis. Er spürte keinen Schmerz, nur Macht. Verführerisch, aber
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