Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
viel größeren.«
»Hier?«, wunderte sich Avi. »Steht hier der Thron? Ich hatte gedacht, er wäre in einem anderen Palast.«
»Hier wohnt das Orakel«, erklärte Xander. Zum ersten Mal, seit Avi dem alten Kobold begegnet war, machte er einen beklommenen Eindruck.
Die Ketten waren mit drei großen Vorhängeschlössern gesichert. »Hast du noch deine Samen, Brucie?«, fragte Avi.
»Tut mir leid«, erwiderte sie und setzte sich auf seine Schulter. »Kellen hat sie beschlagnahmt. Ich war außer mir vor Wut. Du hast ja gar keine Vorstellung, wie schwierig sie aufzutreiben sind.«
»Wir brauchen keinen Elfenzauber«, meinte Xander. »Charon, mach dich ans Werk.« Als er mit dem Finger schnippte, öffnete einer seiner Begleiter seine Tunika. Ein wohlbekannter gelber Papagei flog heraus, und in seinem Schnabel hielt er einen ebenfalls wohlbekannten Gegenstand: den knochenähnlichen Schlüssel, mit dem sie aus ihrer Zelle geflohen waren.
»Offenbar ist er zurückgekehrt, um ihn zu holen«, stellte Avi fest.
Als Brucie sah, was der Vogel im Schnabel hatte, stieß sie einen Pfiff aus. »Ein Knochenschlüssel, der alle Türen öffnet. So etwas ist mir schon seit Jahren nicht untergekommen. Ich dachte, Kellen hätte nach dem Ärger mit seinem Kerkermeister alle zerstören lassen.«
»Ein paar haben es überstanden«, erwiderte Xander.
Nachdem Charon dem Papagei den Schlüssel abgenommen hatte, flatterte der Vogel davon. Er steckte den Schlüssel ins erste Vorhängeschloss und drehte ihn ein wenig hin und her, bis das Schloss mit einem lauten Klicken aufsprang. Rost rieselte auf den vereisten Boden. Charon zog den Schlüssel wieder heraus und wandte sich dem nächsten Schloss zu.
Während Charon arbeitete, rief Hannah Avi zur anderen Seite des Innenhofs hinüber. Sie kniete vor einem Gitterrost und spähte in die Dunkelheit hinab.
»Ich höre ein Geräusch«, verkündete sie. »Kannst du sehen, was da unten ist?«
Als Avi genauer hinschaute, erkannte er ein Sims, das über den Fluss hing. Beim Anblick des reißenden Wassers wurde ihm schwindelig. Auf dem Sims lief etwas hin und her und gab leise glucksende Geräusche von sich – offenbar eine Art Vogel. Doch er hielt sich im Schatten.
»Das ist nur ein Pennapor«, meinte Brucie.
»Penna-was?«, fragte Hannah.
Im nächsten Moment ließ sie ein Schrei herumfahren. Charon sprang von einem Bein auf das andere und schlug nach einer Elfe, die über seinem Kopf herumschwirrte. »Gib das zurück!«
Avi stellte fest, dass die Elfe ein Ende des Schlüssels festhielt, während Charon das andere umklammerte.
Mit einem ungeduldigen Seufzen trat Xander vor und zückte sein Schwert. Mit einem einzigen Stoß durchbohrte er die schwebende Elfe, so dass sie kurz blau aufglühte und dann wie ein Stein herunterfiel. Brucie schnappte nach Luft, aber Xander trat die Leiche nur zur Seite wie eine Lumpenpuppe, während Charon sich wieder den Schlössern widmete.
»Du hättest sie nicht gleich umzubringen brauchen«, tadelte Hannah.
»Unsere Feinde lauern überall«, zischte Xander. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»Fertig«, verkündete Charon und hielt das letzte Schloss hoch. Die Ketten zogen sich von selbst in Löcher im Türrahmen zurück. Als die Tür aufschwang, gab es ein Geräusch wie von einem fallenden Baum.
Sie gingen hinein.
Avis Augen brauchten eine Weile, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Die Kapelle bestand aus einem einzigen Raum. Immer wieder drang das Zucken eines Blitzes durch die hohen, geschlitzten Fenster und fuhr wie eine Messerklinge über die Wände. Bei jedem Blitzschlag ergänzte sich Avis Eindruck vom Raum um eine weitere Einzelheit.
Blitz – sechs steinerne Sockel, in regelmäßigen Abständen im Inneren der Kapelle verteilt.
Blitz – auf den Sockeln: die Statuen von fünf Kriegern in voller Rüstung, angefangen von Kettenhemden bis hin zu Metallplatten. Der sechste Sockel war leer.
Blitz – in der Mitte des Raums und im Gesichtsfeld der Statuen: eine niedrige Plattform aus Holz.
Blitz – auf der Plattform: ein goldener Stuhl mit einem roten Sitzpolster aus Samt und einem Löwenkopf auf der Lehne.
Da die Kapelle bis hinauf zum Turm offen war, hatte man das Gefühl, in einem riesigen Hexenhut zu stehen. Fledermäuse flatterten zwischen den Deckenbalken.
Avi fühlte sich merkwürdig friedlich. Nachdem er Brucie vorsichtig von seiner Schulter genommen hatte, machte er einen Schritt auf die Plattform zu. Gehörte er
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