Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
können das nur eine Handvoll Leute von sich behaupten und du bist die Einzige, der ich es abnehme.«
»Was geht hier vor?« Ein Asterion, einer der hünenhaften Wachen mit dem Kopf eines Bullen, drängelte sich durch die Menge und trat dicht an Virginia heran – zu dicht für ihren Geschmack. Er roch nach Bauernhof, nach Tieren und Mist.
Sie drehte sich nicht zu ihm um. »Verschwinde.«
Schockiert öffnete und schloss der Asterion sein gewaltiges Maul. Noch kein Humani hatte je so mit ihm gesprochen.
Virginia beachtete ihn nicht weiter, sondern funkelte den englischen Magier wütend an. »Bin ich verheiratet, habe ich Kinder? Vielleicht Geschwister? Eltern? Welches ist mein Lieblingstee? Von welcher Eissorte bekomme ich Ausschlag?«
»Virginia!«, murmelte Dare, nachdem er sich erneut verstohlen umgeschaut hatte. Die Leute hatten sich in einem Halbkreis um sie versammelt.
»Du weißt nichts über mich, weil du mich nie gefragt hast. Und du hast mich nicht gefragt, weil es dich … einfach … nie … interessiert hat.« Bei den letzten Worten hatte sie ihn jeweils mit dem Finger angestupst, um ihnen Nachdruck zu verleihen.
Der Asterion trat zwischen sie. Eine Hand legte er auf die Peitsche an seinem Gürtel. »Das hört jetzt auf. Ihr stiftet Unruhe.«
Endlich würdigte Virginia die Kreatur mit dem Bullenkopf eines Blickes. »Wenn du versuchst, die Peitsche einzusetzen«, warnte sie, »wirst du es bereuen.«
Die Bestie lachte grollend. »Jetzt drohen einem schon Humani-Mädchen. Wohin soll das noch führen?«
Mit einer kurzen Bewegung aus dem Handgelenk heraus verwandelte Virginia ihn in Stein.
Ein leises Stöhnen ging durch die Menge. Virginia wandte sich wieder Dee zu. »Es stört dich nicht, dass diese Leute Sklaven sind?«
Dee betrachtete die Leute ringsherum. »Nein.«
»Und weshalb nicht?«
»Es sind nicht meine Leute, das ist schon mal der erste Grund.« Der Doktor grinste, während er beobachtete, wie sich eine Schlange bildete und die Leute nacheinander an die steinerne Statue klopften, die noch vor wenigen Augenblicken ein Soldat war. Anfangs klopften sie mit den Fingern, dann prüften sie mit Münzen oder Messern, ob sie auch tatsächlich aus Stein war. Sie bewunderten die Detailtreue der Statue, die Falten in der ehemals ledernen Uniform, die Schweißperlen auf der Stirn. Besonders fasziniert waren sie von den großen braunen Augen der Figur, die sich immer noch bewegten.
Der Kreis um Virginia und Dee wurde größer, als sich die Kunde von dem, was gerade geschehen war, in Windeseile auf dem Marktplatz verbreitete.
»Schau sie dir doch an«, blaffte Virginia. »Das sind deine Leute. Es sind Menschen. Keine Älteren, keine aus der nächsten Generation und auch keine monsterhaften Hybridwesen oder Wechselbälger. Es sind Menschen. Genau wie du. Und wenn du jetzt behauptest, sie seien nicht genau wie du, hau ich dir eine runter oder verwandle dich in eine Statue. Oder beides.«
Dee schloss den Mund, ohne etwas gesagt zu haben.
»Ich war Waise und habe vollkommen allein in der Wildnis eines urzeitlichen Urwaldes gelebt. Ich hatte niemanden. Keine Freunde, keine Familie, nichts. Aber ich war frei. Und ich habe die Freiheit schätzen und lieben gelernt. Mein ganzes unsterbliches Leben lang habe ich für die Freiheit gekämpft.«
»Dann wolltest du, als du eine Welt von mir verlangt hast …«
»… bestimmt nicht das, was du dir vorstellst. Ich wollte keinen Ort, über den ich als Diktator bestimmen kann. Ich wollte einen Ort schaffen, an dem wahre Freiheit herrscht.«
»Das hättest du mir sagen sollen.«
»Du hättest mich doch nur ausgelacht – und es bereut«, warnte Virginia.
Ein Trupp Asterione, angeführt von einem narbenübersäten Anpu, joggte auf den Platz. Die Menschenansammlung hatte sie auf den Plan gerufen. Sie trugen Peitschen und Keulen und bahnten sich ihren Weg, indem sie die Leute brutal beiseitestießen. Seit Beginn der Unruhen hatte Anubis ein Versammlungsverbot für Humani ausgesprochen.
Der Anpu sah die Asterion-Statue, hielt inne und betrachtete sie verwundert. Vor nicht mal einer Stunde hatte er einen Kontrollgang über den Platz gemacht; eine Statue hatte zu der Zeit noch nicht dagestanden. Außerdem hatte er noch nie ein Standbild von einem Krieger mit Bullenkopf gesehen. Warum sollte jemand eine Statue von einem Ungeheuer anfertigen? Erst als er direkt vor dem grauen Stein stand, erkannte er die brutalen Züge. Es war einer seiner eigenen Leute. Er
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