Die geheimnißvolle Insel
kurzer Zeit bildeten sich der Reporter und sein Gehilfe zu gewandten Photographen aus und erzielten recht gelungene Aufnahmen von Landschaften, wie z.B. ein Gesammtbild der Insel, vom Plateau der Freien Umschau aus gesehen, mit dem Franklin-Berge im Hintergrunde; die so schön zwischen ihre Uferfelsen eingezwängte Mündung der Mercy; den Wiesengrund und die Hürde am Fuße des Vorberges; die sonderbare Gestaltung des Krallen-Caps, die Seetriftspitze u.s.w.
Die Künstler vergaßen natürlich auch nicht, alle Mitglieder der Colonie, ohne jede Ausnahme, abzuconterfeien.
»Immer heran, meine Herren«, rief Pencroff.
Den Seemann entzückte der Gedanke, ein getreues Abbild seines Gesichtes zu erhalten und die Wand des Granithauses damit zu schmücken, so daß er oft mit Vorliebe vor dieser Ausstellung und mit einer Andacht wie vor dem reichsten Schaufenster des Broadway stehen blieb.
Eingestandenermaßen war aber das Porträt des Meister Jup am Besten ausgefallen. Meister Jup hatte mit einem gar nicht zu beschreibenden Ernste zur Aufnahme gesessen, und sein Gesicht schien wahrhaft sprechend!
»Man sollte meinen, er wollte einem ein Gesicht schneiden!« sagte Pencroff.
Und wenn Meister Jup selbst nicht zufrieden gewesen wäre, so hätte er sehr peinlicher Natur sein müssen; doch er war es und betrachtete sein Bild mit sentimentaler Miene, der eine gute Portion Abgeschmacktheit beigemischt war.
Mit dem Monat März ließ die starke Sonnenhitze nach; trotz des Eintritts regnerischer Witterung blieb es aber doch noch ziemlich warm. Der März, der dem September der nördlichen Erdhälfte entspricht, hielt sich nicht so schön, als man erwartet hätte. Vielleicht verkündigte er einen zeitigen und strengen Winter.
Eines Morgens – am 21. – glaubte man sogar, daß schon der erste Schnee gefallen sei, und Harbert, der zu sehr früher Stunde zum Fenster hinaussah, rief wirklich:
»Heda! Die Insel ist mit Schnee bedeckt.
– Schnee zu dieser Jahreszeit?« rief verwundert der Reporter und gesellte sich zu dem jungen Manne.
Bald waren auch die Uebrigen da und konnten jedoch nur die eine Thatsache constatiren, daß nicht nur das Eiland, sondern auch der ganze Strand bis zum Fuß des Granithauses mit einer dichten gleichmäßigen, weißen Lage bedeckt war.
»Das ist doch Schnee, meinte Pencroff.
– Sieht ihm mindestens sehr ähnlich, antwortete Nab.
– Das Thermometer zeigt aber 14° über Null«, bemerkte Gedeon Spilett.
Cyrus Smith betrachtete die weiße Fläche, ohne sich noch auszusprechen, denn er wußte sich diese Erscheinung bei jetziger Jahreszeit und verhältnißmäßig hoher Temperatur nicht zu erklären.
»Tausend Teufel, rief Pencroff, da werden unsere Anpflanzungen verloren sein!«
Schon rüstete sich der Seemann, hinabzusteigen, als ihm Jup zuvor kam, der an dem Seile bis zum Erdboden hinunterglitt.
Kaum hatte der Orang-Utang aber den Strand erreicht, als die ungeheure Schneedecke sich erhob und in der Luft in so unzähligen großen Flocken umherwirbelte, daß das Licht der Sonne einige Minuten verdunkelt wurde.
»Das sind ja Vögel!« rief Harbert.
In der That waren es nichts Anderes, als ganze Schwärme von Seevögeln mit blendend weißem Gefieder, die sich zu Hunderttausenden auf der Insel niedergelassen hatten und jetzt schon in der Ferne verschwanden, während die Colonisten unter dem Eindrucke etwa einer Verwandlung in einer Feerie erstaunt an den Fenstern standen. Leider hatte sich diese Verwandlung so schnell vollzogen, daß weder der Reporter noch der junge Mann einen dieser Vögel, deren Art sie nicht erkannten, zu erlegen vermochten.
Einige Tage später, am 26. März, ging das zweite Jahr zu Ende, seitdem die Colonisten auf der Insel Lincoln niedergefallen waren!
Neunzehntes Capitel.
Erinnerungen an das Vaterland. – Aussichten. – Untersuchung der Küsten. – Abfahrt am 16. April. – Die Schlangenhalbinsel vom Meere aus gesehen. – Die Basaltfelsen der Westküste. – Schlechtes Wetter. – Die Nacht kommt. – Ein neues Ereigniß.
Schon zwei Jahre! Und zwei lange Jahre entbehrten die Colonisten jeder Verbindung mit anderen Menschen! Unbekannt mit den Ereignissen auf dem Welttheater, lebten sie ebenso verloren auf ihrer Insel, wie etwa auf dem fernsten Asteroïden des Sonnensystemes.
Was mochte jetzt in ihrem Vaterlande vorgehen? Immer drängte sich das Bild der Heimat vor ihre Augen, die sie verlassen hatten, zerrissen durch den Bürgerkrieg, und die vielleicht noch jetzt
Weitere Kostenlose Bücher