Die geheimnißvolle Insel
Sie, fiel da Gedeon Spilett ein. Die Insel ist den Seefahrern noch unbekannt, da sie sich selbst auf den neuesten Karten nicht verzeichnet findet. Sollte das nun für ein Schiff, das sie zufällig zu Gesicht bekam, nicht vielmehr ein Grund sein, auf jene zuzusteuern, als ihr aus dem Wege zu gehen?
– Ganz richtig, bestätigte Pencroff.
– Ich bin derselben Meinung, fügte der Ingenieur hinzu. Ja, die Pflicht eines Kapitäns erfordert es, jedes unbekannte und noch nicht eingetragene Land anzulaufen und aufzunehmen; in dieser Lage befindet sich gerade unsere Insel.
– Nehmen wir einmal an, fragte Pencroff, jenes Schiff näherte sich der Küste und ginge da, einige Kabellängen von uns, vor Anker, was würden wir wohl thun?«
Diese so nackt hingestellte Frage erhielt nicht sogleich eine Antwort. Nach einigem Ueberlegen äußerte sich Cyrus Smith mit gewohntem ruhigen Tone darüber.
»Was wir thun würden, meine Freunde, sagte er, und thun müßten, wäre Folgendes: Wir setzen uns mit dem Fahrzeug in Verbindung, schiffen uns auf ihm ein und verlassen also unsere Insel, doch erst nach officieller Besitznahme derselben für die Vereinigten Staaten. Später kehren wir mit allen Denen hierher zurück, die sich zu dem Zwecke uns anschließen wollen, dieselbe dauernd zu besiedeln und der großen Republik eine vortheilhafte Station in diesem Theile des Pacifischen Oceanes zu gründen und anzubieten.
– Hurrah! rief Pencroff; es wird kein zu kleines Geschenk sein, das wir unserem Vaterlande damit machen! Schon ist ja ihre Colonisation fast vollendet; alle Theile der Insel sind getauft, sie hat einen natürlichen Hafen, einen bequemen Wasserplatz, Straßen, eine Telegraphenlinie, eine Werft und eine Werkstatt – nur der Name der Insel Lincoln braucht noch auf den Seekarten nachgetragen zu werden.
– Doch wenn sie während unserer Abwesenheit ein Anderer in Besitz nähme? warf Gedeon Spilett ein.
– Tausend Teufel! wetterte Pencroff, da blieb ich lieber allein als Wache zurück, und auf mein Wort, mir soll sie keiner stehlen, wie die Uhr aus der Tasche eines Tölpels!«
Eine Stunde über blieb es unmöglich, mit Gewißheit zu sagen, ob das signalisirte Schiff auf die Insel Lincoln zusteuere oder nicht. Es hatte sich jetzt zwar der Insel genähert, doch welchen Curs hielt es im Grunde ein? Pencroff vermochte das noch nicht zu erkennen. Da der Wind aus Nordosten kam, war es jedenfalls anzunehmen, daß das Schiff unter Steuerbordhalfen segle. Zudem begünstigte die Brise ein Anlaufen der Insel, der es sich bei der ruhigen See furchtlos nähern konnte, obwohl die Karten Sondirungen des umgebenden Wassers nicht verzeichneten.
Gegen vier Uhr, eine Stunde nachdem er herbei gerufen worden war, kam Ayrton im Granithause an, und trat in den Hauptsaal mit den Worten ein:
»Zu Ihrem Befehle, meine Herren.«
Cyrus Smith streckte ihm, wie er das immer zu thun pflegte, die Hand entgegen und führte ihn nach dem Fenster.
»Ayrton, begann er, wir haben Sie eines sehr gewichtigen Grundes wegen hierher kommen lassen. Ein Fahrzeug ist in Sicht der Insel.«
Zuerst lief eine leichte Blässe über Ayrton’s Wangen, und seine Augen verschleierten sich einen Augenblick. Dann lehnte er sich zum Fenster hinaus, durchlief den Horizont mit den Augen, doch er sah nichts.
»Nehmen Sie dieses Fernrohr, sagte Gedeon Spilett, und sehen aufmerksam dorthin, denn es könnte doch möglich sein, jenes wäre der Duncan, der jetzt zurückkehrte, Sie heimzuführen.
– Der Duncan! murmelte Ayrton. Schon?!«
Das letzte Wörtchen entschlüpfte seinen Lippen mehr unwillkürlich, und vor Erregung barg er den Kopf in seinen Händen.
Zwölf Jahre Verbannung auf einer verlassenen Insel schien ihm der Buße noch nicht genug? Der reuige Sünder fühlte sich, weder in seinen, noch in Anderer Augen, noch immer nicht begnadigt?
»Nein! sagte er, nein! Das ist unmöglich der Duncan.
– Ueberzeugen Sie sich genau, Ayrton, bat der Ingenieur, uns liegt sehr viel daran, bei Zeiten zu wissen, woran wir sind.«
Ayrton nahm das Fernglas noch einmal und richtete es nach dem betreffenden Punkte. Einige Minuten lang beobachtete er den Horizont, ohne die Lippen zu bewegen und eine Silbe laut werden zu lassen. Dann sagte er:
»Ein Schiff ist es wohl, doch für den Duncan kann ich es nicht halten.
– Und weshalb nicht? fragte Gedeon Spilett.
– Weil der Duncan eine Dampfyacht ist und ich keine Spur von Rauch weder über noch neben dem Fahrzeuge sehe.
–
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