Die geheimnißvolle Insel
entfernten, ergriff sie die Gewalt des Sturmes von Neuem. Zusammengebeugt gingen sie weiter und folgten Top, der über die einzuschlagende Richtung nie unschlüssig erschien. Auf dem Wege nach Norden hatten sie zur Rechten die grenzenlose Wogenfläche, mit der ohrenbetäubenden Brandung, zur Linken das der Dunkelheit wegen nicht genau erkennbare Land. Doch bemerkten sie an der Art und Weise, wie der Wind sie traf, daß es verhältnißmäßig eben sein müsse.
Um vier Uhr Morgens mochte man eine Entfernung von fünf Meilen zurückgelegt haben. Die Wolken waren ein wenig aufgestiegen und schleppten nicht mehr so nahe am Boden. Der minder feuchte Wind veränderte sich mehr und mehr zu trockneren und kälteren Luftströmungen. Bei ihrer ungenügenden Bekleidung mochten Pencroff, Harbert und Spilett wohl nicht wenig leiden, doch kam keine Klage über ihre Lippen. Sie waren entschlossen, Top zu folgen, wohin das intelligente Thier sie auch führen möge.
Die Wiederauffindung Cyrus Smiths. (S. 75.)
Gegen fünf Uhr begann der Tag zu grauen. Zuerst unterschied man am Zenith, bei den nur dünneren Dunstschichten daselbst, die einzelnen Wolken, doch bald beleuchtete auch unter einer dunkleren Schicht ein hellerer Streifen den Horizont des Meeres. Die Wellenkämme schimmerten in falbem Lichte und ihr Schaum nahm eine weißliche Färbung an. Gleichzeitig hoben sich zur Linken, wenn auch nur grau in schwarz, die Umrisse des Uferlandes von dem Hintergrunde des Himmels ab.
Um sechs Uhr Morgens wurde es vollkommen hell. Hoch oben jagten die Wolken mit außerordentlicher Schnelligkeit dahin. Die Wanderer befanden sich jetzt gegen sechs Meilen von den Kaminen entfernt. Sie folgten einem sehr flachen Strande, den nach dem Meere zu ein Kranz von Felsen umsäumte, welche jetzt nur mit den obersten Spitzen daraus emportauchten. Zur Linken bot die Umgebung mit einigen distelbestandenen Dünen das Bild einer wüsten sandigen Gegend. Das Ufer mit seinen seltenen Einschnitten setzte dem Oceane keine andere Schutzwehr, als eine unregelmäßige Reihe ganz kleiner Hügel entgegen. Da und dort erhoben sich einige nach Westen zu geneigte Bäume, deren Zweige vorwiegend dieselbe Richtung einhielten. Ziemlich weit rückwärts dehnte sich im Südwesten der Saum eines Waldes aus.
Da gab Top plötzlich unverkennbare Zeichen von Aufregung. Er sprang voraus, kam zu dem Seemanne zurück und schien diesen zur Beschleunigung seiner Schritte treiben zu wollen.
Der Hund hatte den Strand verlassen und verschwand, von seinem unvergleichlichen Instinct geleitet, zwischen den Dünen.
Man folgte ihm. Das Land erschien vollkommen verlassen; kein athmendes Wesen belebte dasselbe.
Die Dünenreihe bestand zunächst in breiter Ausdehnung aus einer ungeordneten Menge kleiner Erhöhungen und Hügel und bildete wirklich von Sand eine Schweiz im Kleinen, in welcher man, um sich zurecht zu finden, eines vorzüglichen Spürsinnes bedurfte.
Nach etwa fünf Minuten gelangten der Reporter und seine zwei Begleiter nach einer Art Sandhöhle im Rücken einer Düne. Laut bellend stand Top vor derselben. Spilett, Harbert und Pencroff eilten in dieselbe hinein.
In ihr befand sich Nab knieend neben einem auf einem Bett von Laub ausgestreckten Körper …
Es war der des Ingenieurs Cyrus Smith.
Achtes Capitel.
Lebend oder todt? – Nab’s Bericht. – Die Fußabdrücke. – Eine unlösliche Frage. – Cyrus Smith’s erste Worte. – Die Constatirung der Fußspur. – Rückkehr nach den Kaminen. – Pencroff’s Entsetzen.
Nab rührte sich nicht. Der Seemann rief ihm nur ein Wort zu. »Lebend?« fragte er.
Nab gab keine Antwort. Gedeon Spilett und Pencroff erblaßten, Harbert faltete die Hände und blieb unbeweglich stehen. Offenbar hatte der arme Neger in seinem Schmerze weder seine Gefährten gesehen, noch den Seemann verstanden.
Der Reporter kniete neben dem bewegungslosen Körper nieder und legte sein Ohr auf die Brust des Ingenieurs, dessen Kleidung er geöffnet hatte. Eine Minute – eine Ewigkeit! – verrann, während er die Herzschläge zu hören suchte.
Nab erhob sich ein wenig und blickte mit irrendem Auge umher. Nie konnte die Verzweiflung das Gesicht eines Menschen tiefgreifender verändern. Erschöpft von der Anstrengung, geknickt von wildem Schmerze, war Nab völlig unkenntlich geworden. Er hielt seinen Herrn für todt.
Nach langer, sorgfältiger Beobachtung richtete sich Gedeon Spilett wieder auf.
»Er lebt!« sagte er.
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