Die geheimnisvollen Pergamente
starrte das Stoffknäuel an. Dann nahm er die Brille ab und schaute es sich mit gerunzelter Stirn noch genauer an. Er schüttelte den Kopf.
»Das gehört mir nicht. Ist es von Mara?«
»Sie bestreitet es«, antwortete Uthman grinsend.
Henri sagte dumpf: »Es gehört weder dir, Joshua, noch Mara. Ich ahne, wem es gehört.«
»Etwa dir, Henri?« Uthman lachte herausfordernd.
»Wahrscheinlich ist es mein Turban.«
»Dein Turban?« Uthman setzte sich, nachdem er von einem wackligen Hocker einen Stapel Bücher heruntergenommen hatte. »Wie kommt dein Turban an unsere Haustür?«
»Ich gäbe viel darum, es dir genau sagen zu können.«
Joshua hob seine schmale Hand und sagte: »Du weißt es noch nicht, Uthman. Henri ist von einigen habgierigen Männern in der ›Gasse der schlechten Küche‹ überfallen worden. Erzähl’s ihm, Henri.«
Uthman fand zwischen den Büchern und Handschriften auf dem Tisch einen Becher, goss Wein hinein und reichte ihn Henri.
Dieser nahm einen Schluck, nickte und sagte: »Also. Ich habe mich in der Stadt gründlich umgesehen, ich ging zuerst…« Er berichtete, wo er gewesen war, und schließlich kam er zu dem Überfall und zu dem Helfer, der überraschend eingegriffen und zumindest das Schlimmste für Henri verhindert hatte. »Du hast ihn nicht gesehen?«, fragte Joshua nach.
»Nein, nicht genau. Er war jung, beweglich, ein guter Kämpfer, und er schwang einen großen Knüppel. Ich war froh, dass ich aus dieser staubigen, stinkenden Kammer flüchten konnte. Dann zog ich es vor, zunächst zu rennen. Als ich sicher war, nicht verfolgt zu werden, ging ich hierher zurück. Den Verlust des fadenscheinigen Turbans kann ich verschmerzen. In der Heiligen Stadt geht es also nicht immer heilig und friedlich zu.«
»Offensichtlich ist dir trotz deiner Vorsicht jemand gefolgt«, stellte Joshua fest. »Und dieser Verfolger wird wohl der Mann gewesen sein, der dir in der Küchengasse geholfen hat.«
»Vielleicht habe ich ihn tatsächlich nicht bemerkt«, gab Henri zu. »Ich bin zwar sicher, dass…«
»Er fand in der Gasse deinen Turban.«
»Du meinst, er hat meinen Turban hierher gebracht?« Henri riss das Stoffknäuel an sich, nestelte am Knoten und öffnete ihn, und nach wenigen Handgriffen rollte das Bündel über den Boden und löste sich in einen fast doppelt handbreiten, langen Stoffstreifen auf.
»Ja, das ist wahrhaftig mein Turban. Ich hatte es schon geahnt«, sagte Henri.
Joshuas leises Lachen klang nicht im Geringsten spöttisch; es war die Bestätigung seiner Gedanken.
Uthman lachte laut, schlug Henri auf die Schulter und rief: »Es kann gar nicht anders gewesen sein! Dein Retter ist dir gefolgt, als du durch die Stadt spaziert bist, und er hat dir geholfen, als du überfallen wurdest. Und nach dem missglückten Überfall ist er dir unerkannt auf den Fersen geblieben, bis zur Tür von Joshuas Haus.«
Henri nickte langsam und antwortete in ernstem Ton: »Du hast wohl Recht, Uthman. Nun gut, ich habe meinen Turban wieder, was völlig bedeutungslos ist. Aber wenn es so ist, wie du sagst, dann hat es mit dem Vorkommnis eine zusätzliche Bewandtnis.«
»Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wann ihr darauf aufmerksam werdet«, sagte Joshua, der nun ein Stoffband auf die Seite seines Buches legte und dieses geräuschvoll zuklappte. »Wie auch immer: Man beobachtet uns – oder vielleicht auch nur dich, Henri. Das macht aber keinen Unterschied. Was dies zu bedeuten hat, weiß ich allerdings nicht. Aber dein Verfolger wollte dir nicht schaden. Im Gegenteil. Er hat dir oder uns ein Zeichen gegeben.«
Er deutete auf den schmutzigen Stoffstreifen, den Henri langsam zusammenrollte.
»Geheimnisvolle Gassen einer Stadt voller Geheimnisse«, murmelte Uthman. »Ich sollte dich Ungläubigen hier in Jerusalem besser begleiten. Du weißt dir zu helfen, Henri, aber meine Falkenaugen und mein spitzer Dolch können dir zusätzlichen Schutz bieten.«
Henri verschränkte die Arme im Nacken, blickte in Uthmans dunkle Augen und zuckte kurz mit den Schultern.
»Vielleicht ist diese Vorsichtsmaßnahme erforderlich. Was sollen wir tun? Was können wir unternehmen?«
»Jetzt erst mal in Ruhe essen«, sagte Joshua blinzelnd, die Brille in beiden Händen, »und dann gut schlafen und warten. Auf Sean und das, was weiter passiert. Schon morgen kann vieles passieren.«
»Du hast vermutlich Recht, Joshua«, sagte Henri, stand auf und blickte nachdenklich seinen zusammengerollten Turban an.
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