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Die geheimnisvollen Pergamente

Die geheimnisvollen Pergamente

Titel: Die geheimnisvollen Pergamente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns Kneifel
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Nacheinander stiegen sie die Treppe zum Dach hinauf und setzten sich an den langen Esstisch. Von dort aus sahen sie durch die Fenster ein gewaltiges Schauspiel aus Wolken und einer glutroten, zusammengedrückten Sonnenscheibe.
     
    Der Mond, halbrund und fast weiß, schüttete sein silbernes Licht über dem Tal aus. Es war gegen Mitternacht, als Sean aufwachte und, nachdem er wieder wusste, wo und in welcher misslichen Lage er sich befand, die Augen weit öffnete. Dort drüben standen fünf Pferde, mit hängenden Köpfen, von unzähligen Nachtmücken umschwärmt. Aus dem winzigen Glutkern, der vom Lagerfeuer übrig geblieben war, stieg ein fingerdünner Rauchfaden auf.
    Sean lag halb in der Finsternis, halb im wolkigen Mondlicht. Er wandte den Kopf. Seine fünf Entführer schliefen; der Anführer lehnte zusammengesunken am Ölbaumstamm und kämpfte gegen die Müdigkeit an. Sean hob die gekreuzten Handgelenke und starrte die Lederschnüre und Knoten an. Sein Blick festigte sich. Die Enden der Handfesseln spreizten sich nach links und rechts. Die ersten Knoten schienen nachlässig und mit wenig Zug geknüpft worden zu sein. Er bewegte die Arme, hob sie in die Nähe seines Gesichts und betrachtete die Windungen und Schlingen. Er holte tief Luft, biss auf den Knoten und zerrte ihn nach rechts, zerrte und zog das andere Ende nach links. Das feuchte, alte Leder hinterließ auf seiner Zunge einen ekelhaften Geschmack. Zwischen den Zähnen verlor der Knoten etwas von seiner Härte.
    Plötzlich hielt Sean inne und begann nachzudenken.
    Wenn es ihm gelang, die Fesseln zu lösen, war er frei. Frei, inmitten von fünf Entführern, abseits der Straße, ohne Waffe, mit halb abgestorbenen Gliedern und Muskeln, einige Stunden von Jerusalem entfernt. Und er war hungrig und durstig. Rannte er weg, würden ihn die fünf binnen kurzer Zeit eingeholt haben.
    Was soll ich tun?, fragte er sich in wachsender Verzweiflung. Ich müsste fünf Männer töten, und erst dann könnte ich nach Jerusalem und zu Henri reiten.
    Er fühlte sich schmutzig, verschwitzt, müde und schlaff. Seine Kleidung stank. Es war niemand hier, der ihm helfen konnte; er war völlig auf sich allein gestellt. Sean entschloss sich, seine letzte Möglichkeit wahrzunehmen und weiter zu versuchen, seine Handfesseln zu lösen.
    Wieder biss er auf die Enden der Schnüre, drehte sich zur Seite und spießte den Knoten auf einen Ast, der in langen Splittern auseinandergebrochen war. Trotz des Mondlichts sah Sean nicht viel mehr als eine helle Spitze, die sich jedes Mal, wenn er sie zu treffen versuchte, zitternd zur Seite bog. Sean begann zu schwitzen, er versuchte es ein drittes, ein viertes Mal und schaffte es schließlich. Das spitze Holz bohrte sich in den daumengroßen Knoten, rutschte ein Stück weit darüber und saß nun fest.
    Sean drehte sich vorsichtig wieder zur Seite und blinzelte den Schweiß aus den Augen. Als sein Blick endlich klar wurde, sah er, dass seine Entführer nichts bemerkt hatten und noch immer schliefen.
    Seine Armmuskeln begannen zu zittern. Er fuhr damit fort, den Knoten weiter über den Splitter zu schieben, dann drehte er seine Handgelenke, rüttelte behutsam an dem Ast und glaubte zu erkennen, wie sich der Knoten weitete. Gleichzeitig spannten sich die Schnüre und schnitten tief in seine Haut. Sean bemühte sich, ruhig zu atmen, und unterdrückte eine Reihe furchtbarer schottischer Flüche.
    Mit einem trockenen Knacken brach der Holzsplitter. Gleichzeitig löste sich der Knoten ein wenig. Sean drehte sich auf den Rücken und blieb starr liegen. Keiner seiner Entführer hatte das Geräusch gehört. Er hob die Hände, biss in die ledernen Enden und zog den Knoten auf. Der Druck auf seine Handgelenke lockerte sich mit jedem weiteren Zug. Noch einige Male riss er mit den Schneidezähnen an den eng nebeneinanderliegenden Windungen, dann konnte er die Unterarme auseinander drücken und war frei.
    Er blieb mit angehaltenem Atem liegen und lauschte. Niemand war auf ihn aufmerksam geworden. Er wickelte die Lederschnüre locker um sein linkes Handgelenk und knetete seine Handgelenke. Er spürte, wie das Blut in seinen Adern pochte. Auch die Pferde waren ruhig geblieben. Der Mond war gewandert, sodass der Olivenhain im Dunkeln lag, aber die Dunkelheit war nicht vollkommen. Beim Licht der Sterne und dem Widerschein des Mondlichts, das auf einigen Felsspitzen lag, erkannte Sean mit einiger Mühe ein paar Einzelheiten.
    Er richtete sich auf, kam auf die Knie,

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