Die geheimnisvollen Pergamente
alle auf dem Dach?«, rief Uthman aus dem Erdgeschoss.
»Ja. Komm herauf!«, gab Henri laut zurück. »Bring ein paar Kerzen mit. Und noch einen Krug Wein.«
Uthman lachte. »Ich eile und gehorche, Henri.«
Henri de Roslin lehnte sich zurück und streckte genussvoll die Beine aus. Er trug nur einen langen Rock aus dünnem Stoff und aus Stroh geflochtene Sandalen. Die ruhigen Tage als Joshuas Gast und besonders die Nächte, in denen er tief und lange schlief, hatten viele schlimme Erinnerungen vertrieben und ihn, der nun schon 52 Jahre zählte, in der Gewissheit bestärkt, dass die Jahre des Kampfes hinter ihm lagen. Er war müde und schlaff, sein Körper und sein Herz trugen die frischen und alten Narben vieler Kämpfe. Henri ahnte, dass der Aufenthalt in Jerusalem auch nur ein langes Atemholen vor neuen Abenteuern sein konnte, aber er würde jede Stunde auskosten.
Uthman kam aufs Dach und setzte sich, nachdem er den schweren Krug abgestellt und die Kerzen verteilt hatte, zu den Freunden. Der Vierzigjährige nahm den Turban ab und blickte in den schwarzen Himmel.
»Das Essen ist bald fertig«, sagte Mara und fragte: »Warst du in der Moschee?«
»Ja, in der Omar-Moschee«, antwortete Uthman ibn Umar leichthin. »Gebet ist besser als Schlaf. Zumindest manchmal. Die Predigt war gut; es ging um den Frieden, den kommenden Ramadan und um die Almosen für die Armen.«
Im Kalender des Islam, der nach dem Mondmonat berechnet wurde, war Ramadan der neunte Monat. Er begann und endete im Jahr der Christen stets an unterschiedlichen Tagen und wanderte sozusagen durch das Jahr des christlichen Kalenders.
»Aber was vielleicht wichtiger ist – es scheint, dass man uns beobachtet«, fuhr der Sohn Umar ibn al-Mustansirs fort.
Henri richtete sich auf und suchte den Blick von Uthmans schwarzen Augen. »Beobachtet? Wer sollte das tun?«
»Zuerst habe ich nicht bemerkt, dass mir ein junger Araber gefolgt ist. Im Gedränge an der Moschee konnte er auch nicht auffallen. Aber auf dem Weg hierher habe ich ihn immer wieder hinter mir gesehen. Schließlich war er verschwunden.« Uthman zuckte mit den Schultern. Henri und Joshua sahen ihn gespannt an. »In den Gassen hier war es ziemlich finster, aber ich hab den Araber gesehen, als sich ein Fenster öffnete, aus dem Licht fiel. Es war ein dunkel gekleideter junger Mann mit schwarzen Locken. Er hat zu dem Haus hier herübergestarrt, Joshua. Er wirkte aufgeregt. Dann hat sich das Fenster wieder geschlossen, und ich konnte nichts mehr erkennen.«
Die meisten Häuser, dachte Henri, hatten abweisende Fassaden. Wenige kleine Fenster mit Holzläden und vielleicht einen kleinen Erker, der aus Schnitzwerk bestand, sodass man leichter hinaus-als hineinsehen konnte. Und eine schwere Eingangstür. Die Häuser öffneten sich zu den Höfen, mit Wandelgängen, Pfeilern, Fenstern und Treppen. Joshua wandte sich an Mara.
»Hast du in den vergangenen Tagen hier einen jungen Araber herumlungern sehen?«
Die alte Hausbesorgerin schüttelte den Kopf.
»Kleine Jungen rennen oft durch die Gassen. Aber ich habe so einen Mann, wie Uthman ihn beschrieben hat, hier nicht bemerkt.«
Völlig sorglos konnte Joshua hier nicht leben, seine Gefährten wussten von seinen Vorkehrungen. Mindestens einmal pro Woche klopfte ein hünenhafter Mann, offensichtlich auch ein Jude, an die Haustür. Er wurde eingelassen, und Joshua zog sich um. Der Leibwächter, der den als Muslim getarnten Joshua dann zu Rabbi Judah ben Cohen begleitete, brachte ihn spät nachts oder erst am nächsten Morgen zurück. Joshua und der Rabbi verbrachten die Stunden mit langen Gesprächen über Glauben und Wissenschaft.
Das Zusammenleben mit den Muslimen in Jerusalem war für Juden und Christen vor einigen Jahren noch wesentlich einfacher. Doch es gab Formen des Miteinander, freilich war die Hierarchie klar, denn die Muslime hielten alle Andersgläubigen für Ungläubige. Joshua hatte Henri und Uthman schon vor einiger Zeit berichtet, dass die Muslime jüdische Ärzte beschäftigten und dass viele Juden erfolgreich mit edlen Metallen handelten, mit Arzneien und Stoffen. Sie standen entweder im Dienst einflussreicher Muslime oder zahlten eine Kopfsteuer.
Trotzdem misstraute Henri der Ruhe. Er sagte sich zwar, dass Joshua hier nahe dem alten Viertel bekannt war und dass er sich nicht in Gefahr befand. Für ihn selbst aber und später auch für Sean galt das nicht. Die Erinnerung an die Gräueltaten der christlichen Ritter war trotz der lange
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