Die Geisel
vierundvierzig Jahre auf der Welt zu sein, ohne sich jemals die Zeit dafür zu nehmen, sich hinzusetzen und darüber nachzudenken, welche Entscheidungen er getroffen und welche Wege er nicht eingeschlagen hatte. Als sei er einfach nur bei der Auslieferung seines Lebens mitgefahren.
Es war ja nicht so, dass er in der sechsten Generation von Rednecks abstammte, wie manche von den Jungs hier. Die sich mehr schlecht als recht mit Holzhacken und Handlanger Jobs durchschlugen. Denselben Wintermantel so lange trugen, bis er ihnen vom Leib fiel. Mit so einer scharfgesichtigen Wüstenkönigin verheiratet, so braun und knochig, dass sie aussahen wie verbrutzelte Chicken Wings.
Nein … Er hatte die besten Voraussetzungen gehabt. Ihm hatten alle Möglichkeiten offengestanden, etwas aus sich zu machen. Wie alle, die in Larchmont, New York, geboren und aufgewachsen waren, hatte Paul sich einem relativ klar definierten Erwartungshorizont gegenübergesehen. Es war wirklich ziemlich einfach. Man erwartete lediglich von ihm, dass er als Klassenbester seinen Abschluss an der Highschool machte, sich in Princeton oder Columbia einschrieb, Arzt oder Rechtsanwalt oder etwas ähnlich Angesagtes wurde und es dann im Big Apple zu etwas brachte, bevor er mit seiner wachsenden Familie nach Larchmont zurückkehrte, um das elterliche Anwesen zu übernehmen und die alten Leutchen nach Shady Rest in die Provinz zu verfrachten.
Jetzt erkannte er, dass der Unterschied zwischen jenem Erfolgsszenario und der Lage, in der er sich derzeit wiederfand, auf ein paar wenigen schlecht durchdachten Augenblicken beruhte, die seine ganze Zukunft ins Trudeln und ihn auf die schiefe Bahn gebracht hatten, bis in seine gegenwärtige missliche Lage.
Es hatte alles damit angefangen, dass er in der elften Klasse Mary Ellen Standish ein Kind gemacht hatte und seine Eltern darauf bestanden hatten, dass er jegliche Verantwortung dafür von sich wies. Heute sah er klar, dass er sich damals gedrückt hatte. In den letzten siebenundzwanzig Jahren seines Lebens hatte es jeden Tag ein wenig an ihm genagt und in ihm ein Gefühl der Wertlosigkeit wachsen lassen, ein Gefühl, dass er sowieso zum Scheitern verurteilt war und nichts Besseres verdient hatte als das, was er bekam.
Dieses Gefühl hatte es ihm leicht gemacht, von der Brown University zu fliegen, und das, nachdem sein Vater sämtliche erreichbaren Fäden gezogen hatte, damit er dort zugelassen worden war. Hatte es ihm leicht gemacht, auf diesen Trip nach Westen zu gehen, in dem Sommer, bevor er die Scherben hatte auflesen und seine Ausbildung am örtlichen Gemeindecollege hatte zu Ende bringen sollen. Hatte es ihm leicht gemacht, nie mehr zurückzukehren. Hatte es ihm leicht gemacht, erst Edith zu heiraten und dann Sherry und dann Wanda June. Ein halbes Dutzend Kinder überall im Südwesten verstreut in die Welt zu setzen. Kinder, deren Gesichter er sich nicht ohne die Hilfe von Fotos ins Gedächtnis rufen konnte und deren Namen er niemals parat hatte. Es war immer so weitergegangen. Eine falsche Entscheidung nach der anderen, bis er sich in seiner derzeitigen Lage wiederfand, in einem Gefängnis saß und darauf wartete, beim Sterben an die Reihe zu kommen. Genauso sah er das. Es war die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab. Sie holten einen nach dem anderen heraus und erschossen sie. Deshalb kam keiner von denen zurück. Und deshalb würde auch er nicht mehr zurückkommen.
So war es nicht überraschend, dass Paul Lovantanos Herz zu rasen begann, als die Zellentür zum fünften Mal aufging. Sein Mund wollte betteln, doch irgendetwas tief in seinem Inneren ließ es nicht zu. Vielleicht die Geschichte mit Mary Ellen Standish. Wer weiß?
Die Zellentür schwang rasselnd auf. Der riesige Sträfling hatte sich seit seinem letzten Besuch mit einer Waffe ausgestattet, sah aus wie eine Uzi.
»Komm«, sagte er. »Du bist dran, Freundchen.«
Der Dieselgeruch hing schwer in der Luft. Das Rauschen des Treibstoffs, der in das Gebäude floss, übertönte beinahe das Brummen der Pumpe. Driver stand auf dem ersten Tank und leuchtete mit seiner Taschenlampe durch die Luke ins Innere. Die Pistolenschüsse waren jetzt, kurz vor dem Sturm, nur noch vereinzelt zu hören.
»Der Scheiß wird kniehoch da drin stehen«, lachte Kehoe. »Hoffen wir, dass keiner 'n Streichholz anzündet, bevor wir hier raus sind.«
Driver sah von seiner Tätigkeit auf. »Schalt die Pumpe aus«, wies er Kehoe an.
Nachdem das Brummen der Pumpe
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