Die Geisel
Driver noch am Lautstärkeregler herumfummelte, teilte sich das Bild auf dem Schirm, links Asuega, rechts Kehoes Aktenfoto. Dann Corso und Driver. Sie traten es mächtig breit. Die ganze Palette. Lebensläufe. Strafregister. Bewaffnet und gefährlich. Versuchen Sie nicht, sie festzuhalten. Wir sind gleich mit weiteren Informationen wieder zurück …
22
Melanie Harris sah die Main Street von Musket hinunter und schauderte. »Wenn mich mal jemand dabei erwischt, dass ich hier wohne, dann sollte er mir eine Kugel in den Kopf jagen«, dachte sie. Alles war in diesem einstöckigen, falschen Adobe-Look gehalten, rund um einen kleinen quadratischen Dorfplatz herum erbaut, mit Fahnenmast und allem. Nur dass der in Arizona wahrscheinlich gar nicht so genannt wurde. Wahrscheinlich hatten sie hier irgendeinen spanischen Zungenbrecher dafür. Das übergroße Sternenbanner knallte und schlug im wirbelnden Wind.
Marty war etwas weiter die Straße hinaufgegangen, um ihre Kontaktperson zu treffen und um mehr Informationen zu bekommen. Material, das sie möglicherweise für die Sendung dieser Woche verwenden konnten. Sie hoffte, dass das Zeug gut war. Nicht so blutrünstig wie das Video von gestern Abend, aber trotzdem heiß und exklusiv. Die Zahl der Anrufe, die sie vom Sender bekommen hatte, verriet ihr, dass sie derzeit so populär waren wie schon lange nicht mehr. In Hollywood konnte man seinen Status immer an der Anzahl und dem Ansehen der Leute ablesen, die dann doch noch zurückriefen.
In einiger Entfernung, weit draußen, hinter dem Grün des Parks, hinter der einförmigen Neubausiedlung, weit draußen, wo die Wüste jeden Tag versuchte, die Vorherrschaft zurückzugewinnen, wirbelte eine kleine Windhose wild durch die Luft. Sie war braun und bedrohlich, voller losem Dreck und Wüstenstaub schlängelte sie sich dicht über dem Boden dahin, nahm dies oder jenes mit, ließ dies oder jenes liegen auf ihrem Weg durch das, was, wie man ihr gesagt hatte, früher einmal ein riesiges Binnengewässer gewesen war.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche, schaltete es mit dem Daumen ein und wartete auf die Netzanzeige. Drei Balken. Viel besser als dort hinten beim Gefängnis, wo sie es einige Male versucht, aber keine Verbindung bekommen hatte. Sie drückte die Neun, dann Kurzwahl. Das Telefon klingelte sechsmal, bevor die Stimme antwortete: »Hallo.«
»Helen, ich bin's, Melanie.«
»Oh.« Die Telefongesellschaft hatte wirklich recht. Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Melanie zog eine Grimasse. Diese Reaktion verriet ihr, dass Brians Mutter keine Zeit dabei verloren hatte, Partei zu ergreifen. Nicht dass sie je auf Melanies Seite gestanden hätte. Nein … Sie waren nie besonders gut miteinander ausgekommen. Freud hätte seinen Spaß daran gehabt. Der klassische Fall: Mama wetteifert mit der Ehefrau um die Zuneigung des Sohnes. Erschwerend kam hinzu, dass Leute aus Helen Martyns Kreisen das Eindringen von Army-Gören wie Melanie Harris nicht sonderlich schätzten. Und so hatte sich ihre Beziehung in den letzten vierzehn Jahren zu etwas entwickelt, das man bestenfalls als gegenseitige Duldung bezeichnen konnte.
Melanie bemühte sich um einen freundlichen Ton: »Ist Brian da?«, fragte sie.
Helen zögerte. »Oh … Ich weiß nicht – äh …«
Und dann hörte Melanie seine Stimme im Hintergrund.
»Deine Frau«, hörte sie Helen sagen.
Eine Minute verging, bevor Brian an den Apparat kam: »Hey.«
»Selber hey.«
»Wie ist das Wetter in Arizona?«
»Windig. Wie ist es in Michigan?«
»Dad sagt, du bist auf allen Kanälen.«
»Wie geht's ihm?«
Sein Zögern verriet ihr, dass etwas nicht stimmte. »Es geht so. Sein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es mal war. Er vergisst alles Mögliche.«
Ein Augenblick verstrich, keiner von beiden wollte es aussprechen. Brian wechselte das Thema. »Er sagt, die Sendung kriegt eine Menge Aufmerksamkeit in der Presse.«
»Wir haben eine kleine Glückssträhne. Wie geht's dir?«
»Ich hab so viel zu tun gehabt. Ich hab's noch nicht mal geschafft, meine Sachen auszupacken.«
»Beschäftigt womit?«
»Ach, du weißt schon, ankommen. Sich wieder auf den neuesten Stand bringen. So was halt.« Noch eine Stimme war im Hintergrund zu hören. Eine Frauenstimme. Nicht Helens.
»Wer ist das?«, fragte Melanie. Sie hörte, wie er Luft holte.
»Patricia«, sagte er. »Patricia Lee … Du erinnerst dich doch an Patricia, oder?« Melanie griff auf ihr Sprechtraining zurück, um ihre Stimme
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