Die Geisel
neutral zu halten. »Ich erinnere mich«, sagte sie. Wie hätte sie Patricia vergessen können? Sie war Brians Highschool-Freundin gewesen. Das Mädchen, das er hätte heiraten sollen. Ihr Vater war Richter am Berufungsgericht gewesen. Man blieb unter sich. Zumindest bis Melanie auf der Bildfläche erschien und den Plan zunichtemachte.
»Was macht sie bei euch?«, fragte Melanie mit etwas mehr Schärfe, als ihr lieb war.
»Sie hilft mir, eine Wohnung zu finden.«
»Ach ja?«
»Sie ist im Immobiliengeschäft.«
»Immer noch mit Larry verheiratet?«
»Harry, und nein. Sie haben sich vor vier Jahren scheiden lassen.«
»Hätte ich mir denken können.«
Gespanntes Schweigen. »Na ja«, sagte Brian nach einer Weile. »Ich wollte gerade los.«
»Ich kann in ein paar Tagen zu Hause sein.« Die Worte waren über ihre Lippen gekommen, ehe ihr Gehirn sie zensieren konnte. »Vielleicht könnten wir …«
»Ich komme nicht nach Kalifornien zurück, Mel. Nicht jetzt. Überhaupt nicht mehr. Ich hab mich da sowieso nie zu Hause gefühlt. Ich bin mir immer vorgekommen wie in einem schlechten Urlaub.«
»Brian, bitte … Wir könnten doch …«
»Bitte«, sagte er. »Hör zu, Mel. Ich verstehe dich ja. Du bist ein großer TV-Star und so weiter. Natürlich kannst du das alles nicht aufgeben, um als Frau eines Anwalts in Grand Rapids in Michigan zu leben. Ich mache dir keinen Vorwurf.« Als sie nichts erwiderte, fuhr er fort: »Wir sind einfach zu verschieden. Wir erwarten unterschiedliche Dinge vom Leben.«
»Das war nicht immer so.«
»Das ist lange her. Vor Samantha. Vor alledem.«
»Ja«, sagte sie leise.
»Ich habe gestern zufällig Stan Rummer getroffen«, erzählte er. Ein weiterer alter Freund von der Highschool. Auch Anwalt. Dann erst fiel es ihr ein, und das Herz gefror ihr in der Brust: »Mr. S-C-H-E-I-D-U-N-G, Detroit.« Sie buchstabierte es, wie in seinem schrecklichen TV-Werbespot. »Stan verdient sein Geld noch immer mit dem Unglück anderer Leute, was?«
»Wir müssen reden, Mel.«
Sie fühlte, wie er sich wand. »Dann rede.«
»Nicht jetzt.«
Patricias Stimme im Hintergrund wurde lauter.
»Sag ihr, sie soll ihr verdammtes Maul halten.«
Er schwieg und sammelte sich, wie immer, wenn sie fluchte. »Hör zu … Ich muss los.«
»Mit ihr?«
»Ich hab's dir doch gesagt. Ich suche eine Wohnung.«
»Brian«, bat sie. »Vielleicht …«
Das Tuten in der Leitung sagte ihr, dass das Gespräch zu Ende war.
Melanie Harris nahm das Telefon vom Ohr, schaltete es aus und ließ es in ihre Jackentasche fallen.
Die Windhose war nicht mehr zu sehen. Sie überlegte, ob sie an Geschwindigkeit gewonnen hatte und ins Unbekannte davongefegt war. Vielleicht war ihr aber auch einfach die Luft ausgegangen, so dass sie wenig glorreich in sich zusammengesunken war und ihre gesammelten Reichtümer auf den Wüstenboden hatte fallen lassen, die nun dort auf den nächsten aufregenden Himmelsritt warteten, vielleicht in einer Million Jahren.
Der Wind wurde stärker, ließ ihren Kragen flattern und drückte ihr den Mantel an die Brust. Sie griff nach oben, als wollte sie einen Hut festhalten, und kniff die Augen so fest zusammen, dass sie nichts mehr sah. Hinter ihren Augenlidern konnte sie die Einrichtung von Brians Elternhaus vor sich sehen, alles direkt vom Möbelhaus Ethan Allen. Alles sehr klassisch. Voll orientalischer Teppiche und warmem Holz. Vor ihrem geistigen Auge war es immer für die Feiertage dekoriert, mit Weihnachtsmusik im Hintergrund, Schleifen und roten Bändern überall und dem größten Christbaum, der durch die Doppeltüren gepasst hatte und der jetzt im Wohnzimmer stand und Hof hielt.
Als sie die Augen aufschlug, war Marty Wells nur noch hundert Meter entfernt und kam flotten Schrittes auf sie zu. Wieder hatte ihm der Wind sein sorgfältig frisiertes Haardach vom Kopf geweht. Sie erkannte es an seinem Gang. Er dachte, er hätte etwas ganz Besonderes.
»Gut?«, fragte sie.
»Besser«, erwiderte er, fasste nach dem Türgriff und zog die Tür des Wohnmobils auf. Mit einem dicken roten Ordner in der Hand scheuchte er sie hinein. Drinnen war die Luft still und abgestanden. Mit der freien Hand klebte Marty die Haarschindel wieder an ihren Platz. »Was sagt man dazu?«, fing er mit einem Augenzwinkern an. »Alles hat doch damit angelangen, dass dieser Driver zu einer ärztlichen Untersuchung sollte, stimmt's? Deshalb wurde er aus seiner Zelle geholt, und das Ganze kam ins Rollen.«
»Und?«
»Und … es
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