Die Geisel des Löwen: Historischer Roman (German Edition)
ihn von den seltenen Zeremonien, zu denen die Dörfler auf die Burg kamen – begrüßte eben eine Abordnung der Obodriten, eines Slawenstammes aus Mikelenburg. Zweifellos wollten die Männer das Orakel befragen, ein Unternehmen, für das die Fürsten der verschiedenen Slawenstämme zuweilen weite Reisen unternahmen. Seit der Zerstörung des Heiligtums Rethra am Tollensesee hundert Jahre zuvor war Arkona der einzige Ort im Ostseebereich, der zu Ehren des Gottes und für das Orakel heilige Pferde hielt.
Amra starrte neugierig auf die Stallanlagen hinter dem Haupttempel. Womöglich würde sie Zeugin des Rituals werden! Es fand öffentlich statt, aber bislang war Amra nie im Inneren der Burg gewesen, wenn das Orakel befragt wurde. Auf jeden Fall war sie nicht böse, als Baruch sie bat, vor dem Königspalas auf ihn zu warten. Er hoffte auf eine sofortige Audienz bei König Tetzlav, und dabei konnte er das Mädchen nun wirklich nicht gebrauchen. Amra nahm bereitwillig die Zügel seiner Stute, um sich wenigstens ein bisschen nützlich zu machen. Die sanfte Susa blieb gelassen neben ihr stehen.
Rund um den Palas herrschte geschäftiges Treiben. Ritter und Diener gingen ein und aus, Lebensmittel wurden gebracht, und Küchenmädchen leerten Putzeimer aus, um sie am Brunnen vor den Gebäuden neu zu füllen. Die Bediensteten hatten keinen Blick für das Geschehen am Tempel, Amra dagegen verfolgte interessiert die Vorbereitungen für das Orakel.
Die Priester baten die Ratsuchenden, in einem gewissen Abstand vom Schauplatz des Gottesurteils Platz zu nehmen. Dann wurden unter Gesängen und Gebeten die Speere ihrer Anführer gekreuzt auf den Boden gelegt. Es ging also um die Entscheidung in einer Schlacht oder gar einem Krieg! Die Obodriten mussten sich bedroht fühlen oder dachten vielleicht selbst daran, einen anderen Stamm anzugreifen. Und nun würde das Orakel ihnen verraten, ob sie dabei mit Sieg oder Niederlage rechnen mussten. Würde Svantevits Pferd die Speere zunächst mit dem rechten Huf überschreiten, so verhieß das Gutes. Setzte es den linken darüber, fing man den Krieg besser gar nicht erst an …
Amra spähte erneut nach der Statue des Gottes, während die Männer auf das Erscheinen des schwarzen Hengstes warteten. Sie erschrak, als sie die Augen eines der Gesichter des Gottes geradewegs auf sich gerichtet fühlte. Svantevit hatte vier – freundliche und grimmige, und jedes schaute in eine der Himmelsrichtungen. Amra entdeckte jetzt auch das Trinkhorn, das Svantevit in der Hand hielt. Es war ebenfalls Teil eines Orakels, allerdings eines recht friedlichen. Die Priester füllten das gewaltige Gefäß jedes Frühjahr mit Bier, und je nachdem, ob es sich in den nächsten Tagen schnell leerte oder überfloss, sagten sie eine gute oder schlechte Ernte voraus.
Nun wurde eines der mächtigen tiefschwarzen Pferde des Gottes von einem Priester aus dem Stall geführt. Amra betrachtete es mit Ehrfurcht, im Dorf erzählten sie sich, dass der Gott damit regelmäßig über die Wälle der Burg sprang und sich in die Kriege seiner Anhänger einmischte. Mit Svantevit an seiner Seite konnte man nur siegen. Man hatte ihn auch schon auf die Jagd reiten oder einfach nur aus Freude am wilden Ritt über die Insel sprengen sehen. Amra fand den Hengst imponierend, er war viel größer und kräftiger als Baruchs Stute. Gegenüber der riesigen Statue des Gottes wirkte jedoch auch der Rappe recht klein. Ob Svantevit den Körper des Pferdes anschwellen ließ, wenn er reiten wollte?
Nun sah der Hengst aber auch nicht aus, als ob er viel arbeitete. Im Gegenteil, er war wohlgenährt und strotzte vor Übermut, der Priester konnte ihn kaum halten. Und dann sah Amra etwas, das sie in Staunen versetzte: Der Mann versuchte, die Schritte des Tieres zu lenken. Er gab ihm mal mehr, mal weniger Zügel und beeinflusste damit zweifellos die Schrittlänge. Der Priester würde also bestimmen können, mit welchem Huf der Hengst vor den Speeren abfußte! Amra hielt den Atem an und biss sich auf die Lippen. Wenn der Hengst nicht selbst bestimmte, welchen Huf er über das Hindernis setzte – was war das Orakel dann wert?
Doch der Rappe schien an diesem Tag nicht gewillt, den unauffälligen Hinweisen seines Führers zu folgen. Er interessierte sich allerdings auch nicht besonders für seine göttliche Aufgabe, sondern eher für die Stute Susa. Amra war geistesabwesend immer näher an den Orakelplatz herangetreten – und Susa war ihr natürlich brav
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