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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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geschnappt zu haben. Die Nierentritte nahmen ihm das Gefühl für den Schmerz. Sie kamen jedes Mal mit großer Präzision. Er tippte darauf, dass sie von Tigerlilly stammten. Die nächsten Wochen würde er Blut pinkeln.
    Weitere Schritte hallten über den Gang. Eine Stimme rief von der Türöffnung: »Was machst du da, verdammt?«
    »Halt dich da raus, Tom!«
    Ja, sie war es.
    Als ihre mit Eisen beschlagene Stiefelspitze seinen Kiefer traf, fiel er in bodenlose Tiefe.
     
    Sie hatte zu viel Blut verloren, als dass man den toten Fötus mittels eines Kaiserschnitts hätte entfernen können. Stattdessen wurde Maja zur weiteren Beobachtung in ein Einzelzimmer verlegt, das sich am Ende der Station befand. Weg von den übrigen Schwangeren, als wäre sie in Quarantäne. Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden sollten all diese Mütter lebende und gesunde Kinder zur Welt bringen. Sie hingegen würde einen toten Fötus gebären. Getötet von der mangelnden Blutzufuhr als Folge der Plazenta, die sich gelöst hatte.
    Sie dämmerte vor sich hin, als Stig hereinkam. Das Personal hatte ihn bereits darüber informiert, was geschehen war. Er setzte sich stumm zu ihr auf die Bettkante. Lange hielten sie sich an der Hand, ohne sich anzusehen. Irgendwann versuchte er, etwas zu sagen, doch es liefen ihm nur Tränen übers Gesicht.
    Achtzehn Stunden später war ihr Zustand so stabil, dass die Geburt eingeleitet werden konnte.
    Die Wehen waren so gewaltig, dass sie ihr jedes Mal die Besinnung raubten. Doch sie sprach fast kein Wort. Beklagte sich nicht. Das Morphium, das sie ihr anboten, nahm sie dankend an, später auch die Epiduralanästhesie. Ohne die Hilfe von Walnuss war es fast unmöglich, ihn zu gebären. Als wolle er nicht herauskommen. Um 18.27 Uhr kam er auf die Welt. Er war warm, weich und duftete süß. Seine dünnen Haare standen vom Kopf ab, so wie Stigs Haare am Anfang ihrer Beziehung vom Kopf abgestanden hatten. Sie hielt ihn eng an sich. Es war schön, ihn an ihrer Brust zu spüren. Er sah aus, als schliefe er, und sie wartete darauf, dass er jeden Moment die Augen aufschlagen und einen hellen Schrei von sich geben würde.
    Doch Walnuss blieb still.
     

32
    Timmie erwachte.
    Für einen Augenblick dachte er, dass er zu Hause in seinem Bett lag. Dass alles nur ein Traum war. Bis er die matte Deckenlampe sah, die über ihm leuchtete. Da wusste er, dass er sich wieder im weißen Raum befand. Die Lampe starrte ihn an wie ein wachsames Auge. Wie sie es schon die ganze Zeit tat, seit er hier eingesperrt war. Er spürte die klamme Plastikunterlage und den einen Tag alten Stuhlgang in der Hose, der an seinen Schenkeln und im Schritt brannte. Es war quälend warm. Sein Hals und seine Kehle waren vor Durst geschwollen, die Dehydrierung verursachte ihm einen dumpfen Kopfschmerz. Er versuchte aufzustehen. Aber die Leine um seinen Hals hielt ihn zurück und schnitt in die bereits offen gescheuerten Wunden.
    Erneut packte ihn die Platzangst. Er bekam keine Luft mehr. Sein Herz hämmerte, ihm wurde schwindlig. Er musste hier raus. Sofort. Er brauchte frische Luft. Nichts wie weg von hier. Weg, weg, weg.
    Er zerrte an der dünnen Leine, die an einem Bolzen in der Wand befestigt war und ihn gefangen hielt wie ein wildes Tier. Doch sie ließ sich nicht lösen.
    Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Styroporplatten, an denen sich Kondenswasser gebildet hatte. Versuchte um Hilfe zu rufen. Doch als er den Mund öffnete, kam nur ein heiseres Piepsen. »Hi… Hilfe«, schluchzte er.
    Niemand kam.
    Schließlich ließ er sich entkräftet auf die Matratze sinken. Schaum quoll aus einem Mundwinkel. Er schloss die Augen. Ein brennender Schmerz fuhr ihm bis in die Augenhöhlen. Das hier konnte doch nicht wahr sein. Das gab es doch nicht in Wirklichkeit. Warum er? Warum wurde er so bestraft? Was hatte er getan?
    Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er hierher gekommen war. Er war hier aufgewacht. Eingesperrt. Gefesselt.
    Er dachte an das Frühstück mit seinen Schwestern. Er dachte an die Schule und die Matheprobe. Er dachte an den Spielplatz und an ihn. Den Mann, der so lustig war. Der Geschichten von Peter Pan erzählte. Hatte er ihn hierher gebracht? Timmie war sich nicht sicher. In seinem Kopf drehte sich alles. Am besten war es, die Augen geschlossen zu halten. Den weißen Raum in Gedanken weit, weit wegzuschieben.
    Warum kam niemand zu ihm?
     

33
    Sie hatten sich ein Begräbnis in aller Stille gewünscht. Aber der kleine

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