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Die Geisel

Titel: Die Geisel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Katz Krefeld
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Toilette war. Sie roch wie die Putzmittel seiner Mutter. An der Wand neben der Toilette verlief ein Rohr, das aus dem Boden kam. Am Ende des Rohres befand sich ein kleiner Plastikhahn. Er drehte an dem Hahn, worauf gluckernde Geräusche zu hören waren. Kurz darauf tröpfelte rostfarbenes Wasser heraus. Er probierte es vorsichtig. Es war lauwarm und bitter, aber er war so durstig, dass er begierig trank.
    Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, drehte er den Hahn zu und wandte sich um. In der gegenüberliegenden Ecke stand ein weiterer Plastikkasten. Er sah nicht so aus wie der andere, sondern eher wie die Kiste, in der er zu Hause sein Lego aufbewahrte. Timmie ging hinüber und öffnete den Kasten. Darin lagen sechs Roggenbrote, eine große geräucherte Wurst und ein zwei Kilo schwerer Käse. Er nahm die Wurst und eines der Brote heraus. Er kam sich vor, als hätte er einen verborgenen Schatz entdeckt, aber es kam noch besser. Auf dem Boden des Kastens entdeckte er mehrere Packungen mit dünnen Schokoladetäfelchen. Er riss die Folie der ersten Packung auf und stopfte sich die Täfelchen gierig in den Mund, bis sein halbes Gesicht verschmiert war. Für einen Augenblick dachte er, dass seine Mutter mit ihm schimpfen würde, wenn sie das sähe. Aber er war allein und dies war sein Schatz. Seine Belohnung dafür, dass er eingesperrt war.
    Nachdem er zwei Packungen Schokolade gegessen hatte, ließ er sich satt und erschöpft auf die Pritsche sinken und blickte an die Decke. Ihm war schwindelig. Auch sein T-Shirt war voller Schokoladeflecken. Nie zuvor hatte er so viel Schokolade auf einmal gegessen. Nicht mal zu Weihnachten oder an seinem Geburtstag. Er musste daran denken, dass er bald Geburtstag hatte. Vielleicht würden diejenigen, die ihn gefangen hielten, ihn an seinem Geburtstag freilassen, damit er ihn draußen feiern konnte.
    Er schloss die Augen und flehte sie flüsternd an. Er wollte ein großer Junge sein und geduldig abwarten, wenn sie nur versprachen, ihn an seinem Geburtstag nach draußen zu lassen.
     

34
    Das Kinderzimmer zu betreten war eine einzige Qual. Die Wiege, der Wickeltisch, das Mobile mit den Elefanten und die babyblaue Tapete klagten sie genauso an, wie Stig es getan hatte. Wie sie es selbst tat. Der Anblick schnürte ihr den Magen zusammen. Nicht einmal ihre Prozac konnten den Schmerz lindern. Stig mied den ersten Stock. Er schlief im Wohnzimmer auf dem Sofa, wenn er nicht in seinem Arbeitszimmer war. Den Großteil des Tages konnte sie ihn auf seiner Tastatur tippen hören. Das war das einzige Lebenszeichen, das sie von ihm mitbekam. Sie redeten nicht mehr miteinander. Selbst die Mahlzeiten nahmen sie getrennt ein. Seit dem Begräbnis waren sie zwei Fremde, die unter einem Dach wohnten. Sie freute sich darauf, wieder mit der Arbeit zu beginnen. Die Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Weg von den Bahnschienen. Weg von der Geburtsstation. Weg vom Friedhof. Plötzlich ertrug sie das Kinderzimmer nicht mehr. Es musste verschwinden. Sie ging nach unten, holte Stigs Werkzeugkasten und eine Flasche Sancerre.
     
    Die Wiege war bedeutend leichter auseinanderzunehmen als sie aufzubauen gewesen war. Nach zwanzig Minuten und einer halben Flasche Wein lagen die Einzelteile wie ein Haufen Brennholz auf dem Fußboden. Mit einem Schraubenzieher bewaffnet machte sie sich daran, das Mobile mit den bunten Elefanten von der Decke zu schrauben. Danach kam der Vorhang mit den kleinen Segelbooten an die Reihe. Sie riss ihn einfach herunter, so dass ihr die Ringe, an denen er aufgehängt war, um die Ohren flogen. Morgen würde sie ein paar Eimer Farbe kaufen und die babyblauen Wände überstreichen. Dennoch war sie nicht sicher, ob diese Anstrengungen reichen würden, um die Gespenster zu vertreiben.
     
    Im ganzen Land herrschte immer noch absolutes Feuerverbot. Der knochentrockene Sommer hatte die Reihenhausgärten in Pulverfässer verwandelt, und die Bürger selbst überwachten das Verbot mit aller Strenge. Von Schwarzarbeit einmal ausgenommen, wurden aus keinem anderen Grund mehr Nachbarn bei der Polizei angezeigt.
    Maja war es egal. Ihretwegen hätte das ganze Viertel abbrennen können. Sie warf die Überbleibsel aus dem Kinderzimmer in den hintersten Teil des Gartens auf einen großen Haufen und schüttete Brennspiritus darüber. Der Geruch des Feuers vermischte sich mit dem modrigen Gestank vom ausgetrockneten Bach dahinter. Sie nippte an ihrem Glas, während sie beobachtete, wie die Farbe der

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