Die Geisel
Kirchenraum war beinahe voll besetzt mit Leuten, die ihre Anteilnahme bekunden wollten. Majas Hilfe bei der Verhaftung von Søren Rohde war offiziell bekannt geworden.
Der kleine Kindersarg stand im Mittelgang vor dem Altar. Zwischen Taufbecken und Kanzel. Er ging fast unter in einem Meer von Blumen und Kränzen, die sich bis weit auf den Kirchenboden verteilten.
Maja saß mit Stig, ihrer Mutter und deren Mann Jørgen in der ersten Reihe. Obwohl die gewaltsame Geburt fünf Tage her war, hatte sie immer noch Schmerzen im ganzen Körper. Das Morphium und die beiden Rohypnol-Tabletten, die sie genommen hatte, halfen nur ein wenig.
Die Muttermilch sickerte aus einer Brust. Sie hatte vergessen, eine Stilleinlage in ihren BH zu stecken. Auf dem schwarzen Stoff ihres Kleids zeichnete sich ein feuchter Fleck ab. Die übrige Milch hatte sie am Morgen abgepumpt, ehe sie Walther seinen weißen Strampelanzug angezogen und ihn in den Sarg gelegt hatten.
Der ältliche Pfarrer sprach von der erhöhten Kanzel aus. Seine Stimme war sanft und mitfühlsam. »Ich glaube, dass Gott heute weint, gemeinsam mit uns, weil er selbst einen Sohn verloren hat.« Er machte eine Pause und blickte über die Menschenschar. »Es ist furchtbar und sinnlos, wenn Eltern ihr Kind verlieren. Und es ist schwer, Hoffnung und Trost zu finden an einem Tag wie diesem. An dem man versucht, im Sinnlosen einen Sinn zu finden …«
Maja hörte nicht zu. Sie war in der Kirche nicht anwesend. Auch die letzten Tage waren ihr noch nicht richtig bewusst geworden. Stattdessen lief in ihrem Kopf immer wieder derselbe Film ab. Ein Film, der auf der Bahnstation spielte. Er begann stets mit der Szene, als sie Søren im flackernden Licht des Zuges auf den Gleisen stehen sah. Danach wechselten sich drei Versionen ab. In der einen Version glückte es ihr, Katrine zu verständigen, die Søren schließlich festnahm. In der anderen Version wurde er von den Scharfschützen erschossen. In der dritten Version wurde er vom Regionalzug überrollt. Doch immer endete es damit, dass sie auf dem Bahnsteig stand und ihren großen runden Bauch umfasst hielt.
Als sie aus der schützenden Dunkelheit der Kirche ans Tageslicht traten, schien die Sonne zu explodieren. Maja wollte nur fort. Fort von den neugierigen Blicken, fort von dem Elend und der drückenden Trauer, die sie alle verband. Doch sie mussten die Begräbniszeremonie zu Ende bringen. Sie folgten dem Pfarrer, der den Trauerzug bis zur Grabstätte anführte. Stig trug den in der grellen Sommersonne glänzenden Sarg auf den Armen. Die lange Prozession der Trauergäste wirbelte den Staub des Kieswegs auf, als würden sie in eine Weihrauchwolke gehüllt.
Nachdem der Sarg in die Grube gesenkt worden war, sangen sie ein Lied, das ihre Mutter ausgewählt hatte: Kleines Kind Gottes, was schadet dir? von Nikolai F.S. Grundtvig. Maja versuchte nicht einmal, die Melodie mitzusummen, sondern starrte unverwandt auf den Sarg in der dunklen Grube. Erneut lief der Film in ihrem Kopf ab. Søren, der starb. Sie selbst mit Walnuss auf dem Bahnhof. Sie hoffte, er würde niemals anhalten.
Als sie gerade ins Auto steigen wollte, rief jemand ihren Namen. Maja drehte sich um. Ein Mann kam auf sie zu. Sie erkannte ihn erst, als er direkt vor ihr stand. Es war Johnny. Johnny Honey. Er sah alt aus. Er gab ihr die Hand und kondolierte.
»Danke«, flüsterte sie leise.
»Wir haben zu danken«, entgegnete er. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, ein Kind zu verlieren. Wie groß das Opfer ist, das du gebracht hast.«
Maja nickte und blickte zu Boden.
»Das wird nie vergessen werden. Niemals.« Er hatte Tränen in den Augen. Sein Arm zitterte, als er Maja erneut die Hand gab.
Sie hatten sich entschieden, hinterher niemanden mehr einzuladen. Stattdessen erschien Majas Mutter um Punkt sechs mit dem Abendessen bei ihnen. Das hatte sie jeden Tag getan, seit Maja aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Maja hatte keinen Appetit und hätte auch am liebsten keinen Besuch gehabt. Doch wollte sie ihre Mutter nicht kränken, die ein ausgeprägtes Bedürfnis zu haben schien, sich aus der Trauer über den Verlust ihres Enkelkinds herauszukochen. Während des Abendessens sprachen sie kurz über die gelungene Zeremonie, die vielen Trauergäste und die Predigt, die ihre Mutter besonders schön fand. Maja widersprach nicht. Stig schwieg beharrlich.
Nachdem sie ihre Mutter zur Tür begleitet und verabschiedet hatte, ging Maja zu Stig ins
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