Die Geister, die mich riefen: Deutschlands bekanntester Spukforscher erzählt (German Edition)
sicher verstaut wären.
Was heißt das für meine Arbeit? Sind mein Briefkasten und mein Mail-Account möglicherweise voll mit Berichten von Menschen, die sich die Wirklichkeit falsch zurechtreimen?
Mein holländischer Kollege und Freund, der Psychologe und Ingenieur Sybo Schouten von der Universität Utrecht, wo ich zwei Jahre als Gastprofessor gelehrt und geforscht habe, hat in mühevoller Arbeit eine Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten, in denen paranormale Phänomene berichtet werden, auf die am wenigsten glaubwürdigen Zeugen hin untersucht. 19
Man weiß aus der Psychologie, dass es bei allen Ereignissen einen bestimmten Prozentsatz an Zeugen gibt, die sich in ihrer Erinnerung Erlebnisse zusammenreimen, normale Vorgänge falsch interpretieren, sich täuschen oder abergläubisch sind und deshalb vermehrt zu paranormalen Erklärungen neigen. Schouten fragte sich: Kann es sein, dass allein diese Personengruppe für die Schilderung der paranormalen Phänomene verantwortlich ist? Das Ergebnis der Untersuchung zeigt, dass die Zahl der in der Literatur notierten paranormalen Phänomene unmöglich allein mit den Berichten der Menschen zu erklären ist, die zu paranormalen Erklärungen neigen.
»Also ist Ihre ›Gestaltwahrnehmung‹ oder diese ›Einkleidung‹ die Erklärung für unsere Erlebnisse?«, fragt die Frau am Telefon jetzt.
»Nun, es ist ein denkbarer Ansatz. Können Sie denn etwas damit anfangen?«
»Wissen Sie, ich hätte Ihnen ja wahrscheinlich gar nicht geschrieben, wenn ich mir nicht so sicher gewesen wäre, dass das, was ich erlebt habe, wirklich passiert ist. Bei dem geringsten Zweifel hätte ich die Sache für mich behalten. Und jetzt – zweifle ich doch an mir selbst.«
»Darum geht es mir nicht«, versuche ich sie zu beruhigen. »Ich zweifle nicht an Ihnen. Was Sie schreiben und berichten, ist ja stimmig. Was ich Ihnen anbiete, ist eine mögliche Erklärung. Allein das Wissen, dass es so etwas wie Gestaltwahrnehmung gibt, ist vielleicht geeignet, Ihnen ein bisschen von der Furcht zu nehmen, die Sie mit den Ereignissen verbinden, oder?«
»Vielleicht. Ja.« Die Frau wird still. »Durchaus möglich …«
»Wissen Sie«, fahre ich fort, um ihr klarzumachen, wo mir in der Beratung Grenzen gesetzt sind, »durch die Natur der Erscheinungen ist es unmöglich, Ihnen einen Beweis dafür zu liefern. Selbst wenn ich Sie besuchen würde, würde ich sehr wahrscheinlich auch nicht mehr erfahren. Ich kann Ihren Moment des Erlebens nicht mehr nachvollziehen, denn der ist vorbei. Ich kann Ihnen nur eine mögliche Rekonstruktion anbieten. Mehr nicht.«
Niemand kann bei Erscheinungen, erkläre ich schließlich weiter, und bei anderen Phänomenen mit letzter Sicherheit ausschließen, dass es nicht auch andere Ursachen gibt. Der Physiker Wilhelm Konrad Röntgen hat durch Zufall in seinem Labor Fotoplatten entdeckt, auf denen merkwürdige Schlieren zu sehen waren, die, an und für sich, nichts gezeigt haben. Die plausibelste Erklärung für diese Schlieren war für Röntgen zu diesem Zeitpunkt ein Herstellungsfehler. Fotoplatten wurden zu seinen Lebzeiten noch von Hand hergestellt: Man trug eine spezielle Emulsion auf die Platten auf, die dann trocknete. Es konnte vorkommen, dass die Dunkelkammer nicht ganz abgedichtet war und dass somit ein wenig Licht auf die Platten fiel – eine denkbare Ursache für die Schlieren. Es konnte aber genauso gut sein, dass die Emulsion nicht richtig gleichmäßig gearbeitet war; ein Herstellungsfehler bei der Produktion der Fotoplatten war ebenfalls eine mögliche Erklärung für die Schlieren. Aber Röntgen war mit beiden Erklärungsmodellen nicht so recht zufrieden. Er untersuchte die Schlieren immer wieder neu und führte sie schließlich auf seine Kathodenstrahlexperimente zurück, bei denen Röntgenstrahlen entstanden. Seine Neugierde und seine Beharrlichkeit brachten ihn auf die Spur eines vollkommen neuen Effekts, für den er schließlich den Nobelpreis bekam.
»Und was hat Röntgen nun mit meinem Fall zu tun?«, fragt die Frau am Telefon.
»Es ist wie bei Röntgen und den Strahlen, die er entdeckt hat: Ich schließe nicht aus, dass es neben der Gestaltwahrnehmung noch einen anderen Effekt gibt, den wir heute noch nicht verstehen.«
Gerade lese ich die Notiz von vorhin, »hypnagoger Zustand«, als sie fragt: »Und was ist mit den Schreien in der Nacht? Die können doch nichts mit Gestaltwahrnehmung zu tun haben, oder?«
Jedes Beratungsgespräch läuft anders
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