Die Geister, die mich riefen: Deutschlands bekanntester Spukforscher erzählt (German Edition)
füllen gegenseitig, ganz unbewusst, die Erinnerungslücken des jeweils anderen und kommen bisweilen zu einer gemeinsamen Version der Ereignisse.
»Bald ergibt sich ein vollkommen logischer Ablauf des Unfalls, der sich aus den beiden Zeugenaussagen speist«, erkläre ich der Frau. »Aber die Frage ist: Haben die beiden auch wirklich dasselbe gesehen?«
»Sie misstrauen meinen Schilderungen insgeheim doch, Herr von Lucadou, oder?« Ihre Stimme klingt nicht empört, eher ermattet.
»Ich will Ihnen klarmachen«, setze ich vorsichtig an, um ihr Vertrauen nicht zu verlieren, »dass ein einzelner Mensch die Welt nicht in ihrem gesamten Zusammenhang wahrnehmen kann.«
Dann erkläre ich ihr, dass der Mensch immer nur Teile dessen erlebt, was um ihn herum geschieht. Natürlich denken wir, wir wüssten über alles Bescheid. In Wahrheit aber belügen wir uns selbst und stiften aus den wenigen Informationen, die uns im Alltag zur Verfügung stehen, schnell einen Sinn. Wir sind Meister im Interpretieren, im Kombinieren, im Sinnstiften.
Tatsächlich ist die Information, die unser Gehirn pro Sekunde verarbeiten kann, relativ klein – Psychologen sprechen von sieben Chunks pro Sekunde. »Chunks« sind Sinneinheiten, im einfachsten Falle eine Ja-Nein-Entscheidung, also ein Bit. Ein Schüler, der gerade erst lesen lernt, braucht daher viel Zeit für jedes Wort, weil jeder Buchstabe für sich ein Chunk darstellt. Für geübte Leser dagegen ist das ganze Wort ein Chunk, manchmal sogar ein ganzer Satz. Dadurch entsteht der Eindruck, als könnten wir sehr viel Information pro Sekunde aufnehmen. Das gilt jedoch nur für bereits bekannte Information. Paranormale Erfahrungen stellen aber definitionsgemäß unbekannte und neue Information dar; deshalb muss sie erst in »Bekanntes« umgewandelt werden. Ich nenne dies eine »Einkleidung«. Vorstellungen von Geistern und Gespenstern sind daher ein Verfahren unseres Bewusstseins, um Unbegreifbares »begreifbar« zu machen. Nur so können wir verstehen, dass trotz der relativ geringen Verarbeitungskapazität unseres Gehirns ein vollkommen lückenloser Strom der Wahrnehmung zustande kommt, ohne dass das Wahrgenommene »ruckelt« wie bei einem gestörten Fernsehbild. Der Psychologieprofessor Paul Tholey hat hierfür den Begriff der »mentalen Repräsentation« geprägt. Wir nehmen die Welt also nicht so wahr, wie sie wirklich ist, sondern erleben nur »Kino im Kopf«. Allerdings leben wir dennoch nicht vollständig in einer fiktionalen Welt, weil die Repräsentation durch unsere Sinnesorgane ständig »upgedated« wird, um den Computerjargon zu bemühen. 18
Stellen wir uns eine Erscheinung vor – einen Schatten, einen Umriss, eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Diese Bewegung, diese flüchtige Wahrnehmung muss für sich genommen keinen Sinn ergeben. In unserem Gehirn kommt aber sofort ein Prozess in Gang, der dafür sorgt, dass das Gesehene zu einem Bild oder zu einer Geschichte vervollständigt wird, die wir interpretieren können. Bei optischen Täuschungen ist es ähnlich: Unser Gehirn neigt dazu, aus allen Umrissen eine Gestalt zu machen. Deshalb nennen wir dieses Phänomen »Gestaltwahrnehmung«. Wenn wir eine Weile in die Wolken schauen oder in ein Astwerk, dann sehen wir bald irgendwelche Gestalten – und meistens sind es sogar menschliche Gestalten.
In den Briefen an die Parapsychologische Beratungsstelle stecken immer wieder Fotos von »Ufos« zum Beispiel oder auch von extremen Wolkenformationen, in denen die Absender zum Beispiel Gesichter sehen. Ich muss regelmäßig nachfragen, was genau ich auf dem Bild sehen soll, wo sich ein Geist oder eine Gestalt verbirgt, denn auf den ersten Blick ist so etwas nicht gerade offensichtlich. Dann leiten mich die Absender an: »Schauen Sie, da, unter dem Baum, sieht man das Licht.« Oder: »Links, in der Wolke, da ist die Nase, darüber sehen Sie ein Auge.«
Mit der entsprechenden Hilfe kann ich die Gesichter oder Gestalten dann auch tatsächlich sehen. Das ist wieder Gestaltwahrnehmung: Das Gehirn nimmt ein Puzzlestück der Wirklichkeit als Grundlage für eine umfassende Interpretation. Das stellt mich im Beratungsalltag vor Probleme. Wann ist eine Geschichte oder eine Beobachtung glaubwürdig? Die Erinnerung ist gerade in Zusammenhang mit paranormalen Phänomenen nicht besonders zuverlässig. Die Ereignisse sind meistens kurzzeitig und in aller Regel unwahrscheinlich. Es gibt im Gehirn keine Schublade, in der solche Wahrnehmungen
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